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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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und wir könnten uns verirren. Außerdem stehen da viele tote Bäume, die in so einem Sturm jederzeit umstürzen können.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, hier sind wir im Augenblick am sichersten. Meine Mutter wird deinen Vater schon beruhigen.«
    Javid befühlte mein T-Shirt, dass auf der Holzstange über seinem Kopf hing. Er sagte: »Es ist noch nicht trocken. Darf ich trotzdem wieder mit unter die Decke kommen?«
    Als ich sie ihm diesmal öffnete, waren seine Augen und seine Gedanken ganz bei dem, was er sah. Anstatt sich neben mich zu setzen, sah er mich einfach nur an und ich ließ die Arme wieder sinken.
    Javid hockte sich vor mir nieder und sagte: »Du bist Kupferfrau, Sofie. Deshalb hast du Ozette gesehen. Weil du keine Angst vor Sisiutl, dem Ungeheuer des Meeres, hattest. Du hast ihm ins Gesicht gesehen, obwohl es dich verschlingen wollte. Dabei hast du etwas gefunden, was dir niemand mehr nehmen kann: die Wahrheit, Copper. Deine Wahrheit.«
    Javid berührte meine Haare, die noch feucht waren und sich nun in der Wärme wild zu kringeln begannen. »Sisiutl hat dich mit Magie gesegnet, Sofie, deshalb hast du Ozette gesehen.«
    Â»Und was hat das zu bedeuten?«, fragte ich beklommen.
    Â»Du hast eine wunderbare Kraft geschenkt bekommen. Deine Magie kann manchmal stark und manchmal weniger stark sein. Aber niemand wird deiner Wahrheit je wieder etwas anhaben können, sie ruht in dir. Deshalb wirst du nie wieder allein sein.«
    Das hörte sich verdammt gut an. Ein dicker Kloß saß in meiner Kehle und ich spürte Tränen aufsteigen. Es waren Tränen der Erleichterung und der Freude.
    Â»Und was ist mit dir?«, fragte ich. »Warum hast du Ozette gesehen?«
    Â»Das ist eine andere Geschichte und ich möchte jetzt nicht darüber reden. Lass uns lieber ein bisschen schlafen, wer weiß, was uns morgen früh erwartet.«
    Vor noch nicht allzu langer Zeit war ich der festen Überzeugung gewesen,dass die Nacht meine beste Zeit war, weil da nichts von mir verlangt wurde. Ich konnte mich hemmungslos meinen Träumen hingeben, mir Geschichten ausdenken, in denen die Wirklichkeit keine Rolle spielte, und alle meine Wünsche gingen in Erfüllung. Doch dies war eine fremde Nacht in einem fremden Land und ich war von einer wilden, namenlosen Unruhe erfüllt. Ich spürte neue Kräfte in mir und hatte das Gefühl, als wüchsen mir Flügel.
    In der Hütte gab es eine breite Bank mit einer dünnen Matratze, die von Jägern vermutlich als Schlafstatt benutzt wurde. Dort hatte Javid auch die Decke gefunden. Sein eigenes T-Shirt war inzwischen trocken geworden und er gab es mir, damit ich was anzuziehen hatte. Mit einem Lächeln versicherte er mir, dass er selbst nicht fror, wenn ich ihm nur etwas von der Decke überlassen würde.
    Wir legten uns auf die Schlafstatt und ich ließ mich widerstandslos von Javid umarmen. Zuerst glaubte ich, an Schlaf wäre nicht zu denken, so eng, wie ich an seinem warmen Körper lag, seinen Herzschlag in meinem Rücken. Einen Arm hatte er um meine Taille geschlungen, auf seinem anderen lag mein Kopf.
    Â»Ich wusste doch, dass heute mein Glückstag ist«, murmelte er. Ich spürte Javids warmen Atem an meinem Ohr und lag wie gelähmt vor Scheu und einem unbekannten Verlangen. »Ich wünschte, das Kanu wäre schon fertig.« Sein Flüstern drang wie weiche Gischt in meine Gedanken.
    Das also war es, was ihn so zurückhaltend sein ließ. In diesem Augenblick wusste ich nicht, ob ich dankbar sein sollte oder traurig, dass Javid sich an die alten Traditionen seines Volkes hielt. Ich genoss es einfach, in seinen Armen zu liegen und von seinem Körper gewärmt zu werden.
    Der Sturm ließ irgendwann nach und es wurde ruhig im Dunkeln bis auf den Rhythmus unseres Atems. Nach einer Weile war ich eingeschlafen.
    Ein furchtbares Stöhnen riss mich aus dem Schlaf. Es war Javid, der einen schlimmen Traum zu haben schien. »Nein«, sagte er immer wieder, »ich kann nicht, Dad. Nein, Dad.«
    Ich rüttelte ihn so lange, bis er endlich aufwachte und hochschreckte. Verstört blickte er mich durch das Dunkel hindurch an, als wäre ich ein Geist. Das Feuer war niedergebrannt und der Sturm hatte sich verzogen. Mondlicht erhellte den Raum durch das kleine Fenster.
    Â»Du hast nur geträumt«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
    Stöhnend ließ er sich auf die

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