Der Gesang der Orcas
es die Wahrheit war. Meine Worte mussten ihn ärgern und ich hätte sie mir auch verkneifen können, aber nun standen sie zwischen uns im Raum.
»Du machst mir Vorhaltungen?«, fragte er lauernd. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Ich habe dich auf diese Reise mitgenommen, damit wir einander wieder näher kommen. Aber du hattest von Anfang an kein Interesse daran. Du hast nur Augen für diesen Indianerjungen, der dir den Kopf verdreht und dir sonst was erzählt. Wahrscheinlich glaubst du auch noch alles, was er dir sagt.«
In diesem Moment, als ich den mitleidigen Blick in seinen Augen sah, hasste ich ihn. Er war drauf und dran, alles kaputtzumachen, aber das wollte ich nicht zulassen. Auf einmal spürte ich die Magie, von der Javid gesprochen hatte. Mein besorgter, wütender, ungerechter Vater würde mich nicht aus der Fassung bringen.
Schweigend wandte ich mich von ihm ab und sah aus dem Fenster. Er nahm mich unsanft an der Schulter und drehte mich zu sich herum. »Stimmt was nicht, junge Dame?«, fragte er wütend. »Ich rede mit dir.«
»Ich bin müde und würde jetzt gerne duschen«, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ein wenig Reue wäre vielleicht angebracht.«
»Ich habe gesagt,dass es mir Leid tut. Wie oft willst du es noch hören, bis du mir endlich glaubst?«
Mürrisch sagte mein Vater: »Für heute hast du Hausarrest. Morgen fahren Lorraine und ich nach La Push und du wirst uns begleiten. Ich wecke dich rechtzeitig.«
Seine Worte klangen bitter und duldeten keinen Widerspruch. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Dieses T-Shirt, das du da anhast, gehört das nicht Javid?«
Ich sah an mir herunter. THINK INDIAN, prangte der gummierte Aufdruck über meiner Brust. Ich war nicht dazu gekommen, es ihm wiederzugeben.
»Was auch passiert ist in dieser Hütte«, sagte Papa kopfschüttelnd, »ich will es nicht wissen.« Die Stimme versagte ihm.
Ich war so enttäuscht von ihm, dass ich nicht einmal fähig war mich zu verteidigen. Nachdem mein Vater das Zimmer verlassen hatte, setzte ich mich auf mein Bett und lieà mich nach hinten fallen. Ich fühlte mich vollkommen erschöpft. Weniger von den Ereignissen als vom Kampf mit meinem Vater. Dass er so wenig Verständnis hatte, so wenig Vertrauen, ernüchterte mich. Er war nicht wie meine Mutter und würde es nie sein, auch wenn ich mir das insgeheim erhofft hatte. In diesem Augenblick fehlte sie mir so sehr, dass meine Sehnsucht zu einem Knoten in der Brust wurde, der furchtbare Schmerzen ausstrahlte. Ich krümmte mich, aber ich weinte nicht. Ich hielt sie aus, bis sie langsam nachlieÃen und ich wieder klar denken konnte.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich auf meine Armbanduhr sah, war es schon kurz vor 18 Uhr. Es war dunkel und stickig im Zimmer. Diffuses graues Licht sickerte durch die Vorhänge. Ich ging zum Fenster und schob es auf. Feuchte Luft quoll herein, warmer grauer Nebel, der drauÃen alles verschlang und aus Neah Bay eine Gespensterstadt machte. Die StraÃe, die Häuser, die Bäume und das Meer, alles war von einem einheitlichen Grau.
Seit dem Morgen hatte sich das Wetter nicht geändert. Das bedeutete, der Tanker trieb vielleicht immer noch vor der Küste und niemand konnte etwas dagegen tun. Ich musste unbedingt herausfinden, wie die Dinge sich entwickelt hatten.
Schnell duschte ich und zog frische Sachen an, dann ging ich nach unten zu Freda, in der Hoffnung, Javid dort zu finden. Aber er war nicht da.
»Er ist am Nachmittag zu Tyler gegangen«, sagte Freda. »Sie wollen versuchen das Schlauchboot zu reparieren.«
Ich nickte betrübt.
Freda, die gerade das Abendessen zubereitete, fragte: »Hast du Hunger, Sofie? Du hast doch bestimmt den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen?« Ich nickte noch einmal und sie drückte mir einen frischen Salatkopf in die Hand. »Kümmere dich um den Salat, dann bin ich schneller fertig und wir können zusammen essen. Javid kommt sicher später, wir werden ihm etwas aufheben.«
Ich mochte Freda sehr gern. Auf gewisse Weise erinnerte sie mich an meine Mutter. Freda hatte dieselbe Ruhe und Selbstverständlichkeit einigen Dingen gegenüber. Eigenschaften, die ich an Mama so gemocht hatte.
In einem Anflug von Kühnheit stellte ich mir vor hier zu bleiben, in Neah Bay, und zusammen mit Javid und seiner Mutter das Motel zu
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