Der Gesang der Orcas
lachen. »Ich wusste gar nicht, dass du mir gefährlich werden könntest.«
Er musterte mich eindringlich. »Du hast keine Angst mehr, oder?«
»Vor wem?«, fragte ich. »Vor dir?«
Er schüttelte nur den Kopf und nahm wieder meine Hand, um mich weiterzuziehen. »Javid, Javid«, sagte ich keuchend, weil ich kaum noch mithalten konnte bei seinen schnellen, langen Schritten.
Plötzlich fiel mein Blick auf einen groÃen schwarzen Berg, der hinter der Flussmündung auf dem Strand lag. Wortlos zeigte ich darauf und mir blieb beinahe das Herz stehen. Drüben am Hobuck Beach lag ein Orca auf dem Sand. Er musste mit der Flut herangespült und bei Ebbe dann gestrandet sein. Warum war er so nah ans Ufer gekommen?
Schon wollte ich losrennen, aber Javid hielt mich zurück. »Die Flut steigt wieder und das Wasser ist viel zu tief, um durch die Flussmündung zu laufen. Von hier aus kommen wir nicht an ihn ran.«
»Das ist bestimmt einer von unseren«, flüsterte ich.
Javid nickte unheilvoll.
»Was machen wir jetzt?« Tief unten im Magen war mir mulmig. Ich ahnte das Schlimmste.
Statt einer Antwort packte Javid meine Hand und zerrte mich hinter sich her, zurück zum Schuppen. Wir fuhren mit dem Pick-up aus dem Ort, über die Holzbrücke und dann über die unbefestigte StraÃe bis zum Hobuck Beach. Mit klopfenden Herzen rannten wir zum Strand. Meine Hoffnung, dass der Wal vielleicht noch leben könnte und mit der Flut wieder freikam, hatte Javid schon im Auto zunichte gemacht. »Sie sterben an ihrem eigenen Gewicht, wenn sie nicht mehr im Wasser sind«, sagte er. Ich sah Gänsehaut über seine Arme kriechen, obwohl es warm war.
Javid sollte Recht behalten. Als wir bei dem gestrandeten Orca ankamen, sahen wir sofort, dass er tot war. Ein Mann und zwei Kinder standen um ihn herum, vermutlich waren sie Gäste vom Zeltplatz.
»Es ist Bob.« Ein heftiger Stich ging durch meinen Körper, als ich erkannte, dass dem Wal die Rückenflosse fehlte. Tränen liefen unaufhaltsam über meine Wangen. »Warum, Javid, warum?«
»Wahrscheinlich ist er zu nah ans Ufer geraten und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien«, sagte der Mann. »Der Besitzer vom Zeltplatz hat den Fish & Wildlifeservice schon verständigt. Die werden bald hier sein.«
Ich ging ganz nahe an Bobs leblosen Körper heran, der, seinem natürlichen Element beraubt, jetzt eingefallen und unförmig wirkte. Vor meinen Augen sah ich den neugierigen Burschen aus dem Wasser tauchen und uns mit seinen lustigen Spielchen necken.
Vielleicht war es besser, sich nicht zu erinnern. Vielleicht war es besser, die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen, weil es sonst noch mehr weh tat. Ich berührte die glatte Haut des Wals, dort, wo sie nicht von Narben entstellt war. Seltsam, kein Leben darunter zu spüren. Eine tiefe, namenlose Trauer befiel mich und ich wehrte mich nicht dagegen.
Ich ging in die Hocke und schlang die Arme um meine Knie. So kauerte ich eine endlose Weile vor dem toten Riesen und lieà meinen Tränen freien Lauf. Bis Javid mir von hinten auf die Schulter tippte und sagte, dass die Männer vom Fish & Wildlifeservice jetzt da seien.
Mit ihren dunkelgrünen Fahrzeugen fuhren sie bis auf den Strand, um Bobs sterbliche Ãberreste gleich vor Ort zu zerlegen. Sie trugen Gummianzüge und waren ausgerüstet mit den notwendigen Gerätschaften, um es schnell zu erledigen, bevor die Flut den Strand überspülte.
Die Männer, es waren drei, nahmen verschiedene Gewebeproben und verstauten sie in Schraubgläsern, die sie sorgfältig beschrifteten und in Kühlcontainer steckten. Ihre geschäftigen Stimmen wurden vom Rauschen des Meeres geschluckt. Der Mann war mit seinen Kindern gegangen, als das Schlachten begann. Javid und ich beobachteten aus einiger Entfernung, wie aus dem fröhlichen Bob ein blutiger, formloser Fleischklumpen wurde. Es war eine Qual, zuzusehen, und doch standen wir wie gelähmt dabei. Für Bob waren die Menschen ein willkommenes Objekt seiner Neugier gewesen und diese Neugier hatte ihm vielleicht das Leben gekostet.
»Das ist nicht fair«, flüsterte ich traurig.
Die Nachricht vom toten Wal am Hobuck Beach war schnell bis nach Neah Bay gedrungen und immer mehr Menschen kamen, um sich das blutige Schauspiel anzusehen. Ihre Fahrzeuge reihten sich am Rand der StrandstraÃe aneinander wie Perlen
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