Der Gesang der Orcas
⦠wie einen Indianer eben«, fauchte ich.
Papa lachte kopfschüttelnd. »Er ist einer, oder?«
»Ja. Aber wenn er weià wäre â¦Â«
»Wenn Javid Ahdunko weià wäre, Sofie, wäre ich genauso wütend auf ihn gewesen. Ich hatte Angst um dich, begreifst du das nicht?«
»Ich hatte auch Angst um dich, als du am Cape Flattery auf den Klippen hingst und beinahe abgerutscht wärst«, sagte ich laut. »Aber im Gegensatz zu dir kann ich keine Strafen und keine Verbote über dich verhängen, wie du das mit mir machst. Traust du mir nicht zu, dass ich selbst aus meinen Fehlern lernen kann?«
»Du wärst nicht wieder mit dem Schlauchboot rausgefahren?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Das Schlauchboot ist kaputt.«
»Das ist keine Antwort.«
»Wenn das Meer ruhig ist, ist es vollkommen ungefährlich.«
»Es ist ungefährlich,sich mit einem Schlauchboot in die Nähe riesiger Raubtieren zu begeben?«
»Sie kannten uns und hätten uns niemals etwas getan«, antwortete ich trotzig.
»Sofie!«
»Der arme Bob ist tot.« Tränen liefen wieder über meine Wangen. »Mora erwartet ein Junges, und wenn sie auch Altöl geschluckt hat â¦Â«
»Bob, Mora?« Papa sah mich verständnislos an.
»Mora, Lopo, Bob, Conny und Granny«, sagte ich. »Bob war der Lustigste von allen und nun ist er tot.«
»Ihr habt ihnen Namen gegeben?«
»Ja. Sie sind unsere Freunde. Als der Sturm kam, waren wir nicht zum ersten Mal drauÃen auf dem Meer. Wir haben sie besucht, sooft es ging. Sie haben mit uns gespielt und sich über uns lustig gemacht.«
»Ihr habt mit Killerwalen gespielt?« Die Augen meines Vaters wurden immer gröÃer.
»Sag einfach Orcas«, bat ich ihn. »Das klingt netter. Sie sind harmlos und freundlich. Sie hören gern klassische Musik und sie singen.«
»Orcas singen? Ich dachte immer, das würden nur Buckelwale tun.«
»Ich habe sie gehört, Papa«, sagte ich. »Sie haben wirklich gesungen, extra für uns. Es klang wie Jazz von Charlie Parker.«
»Charlie Parker?« Mein Vater betrachtete mich mit einem seltsamen Blick. »Du hast einige Abenteuer erlebt, nicht wahr?«
Ich nickte wieder. Mein gröÃtes Abenteuer, dass ich in diesem Sommer erlebte, war die Liebe.
»Du hast die Augen deiner Mutter, Sofie«, sagte er und schluckte. Er nahm meine rechte Hand in seine beiden. »Du hast auch ihre Hände. Vieles an dir erinnert mich an sie, auch deine Dickköpfigkeit.« Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, deshalb schwieg ich vorsichtshalber. Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Ich weià noch genau, wie es war, als du geboren wurdest. Ich war dabei, und als ich dich das erste Mal in meinen Armen hielt, glaubte ich an ein kleines Wunder. Ich zählte deine Finger, deine Zehen. Alles war vollkommen an dir. Du warst mein vollkommenes kleines Mädchen.« Ein verträumtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
Ich räusperte mich. »Aber ich bin jetzt fünfzehn, Papa«, sagte ich, »und bald werde ich sechzehn. Ich kann nicht mehr dein vollkommenes kleines Mädchen sein.«
Er seufzte. »Ich weiÃ.Mein Verstand weià es schon eine ganze Weile, aber der Rest brauchte länger, um es zu begreifen. Ich wollte dich so sehr lieben, Sofie. Dabei hatte ich keine Ahnung, was dir wirklich fehlt: Ein Vater, der dir zuhören kann, ohne dir dauernd Vorhaltungen zu machen.« Papa lächelte kopfschüttelnd. »Du bist immer noch mein vollkommenes Mädchen, Sofie. Aus dem einfachen Grund, weil ich dich liebe. Es fällt deinem Vater nur nicht leicht, zu akzeptieren, dass auch andere Männer sehen, wie wunderbar du bist.«
Himmel, was war bloà los mit ihm? »Ist das ein Friedensangebot?«, fragte ich.
»Nimmst du es an?«
Statt einer Antwort sagte ich: »Ich habe Javid sehr gern.«
Er nickte. »Scheint so, als hätte er das auch verdient. Er ist ein prima Bursche.«
Hatte er das wirklich gesagt?
»Lorraine ist auch in Ordnung«, sagte ich. »Ich glaube, ich mag sie.«
»Du bist nicht sauer auf mich?«
»Oh, ich bin ständig sauer auf dich«, sagte ich. »Ich war auch wegen Lorraine sauer auf dich, genauso wie du wegen Javid. Aber nun nicht mehr. Ich weià jetzt, dass das Leben weitergehen wird. Es muss.Ich habe gelernt wieder glücklich zu sein.
Weitere Kostenlose Bücher