Der Gesang des Blutes
Zusammentreffen mit Ihrer Mutter vorbereiten kann. Es wäre nicht gut, wenn Sie sich in ihrer Gegenwart erschrecken. Bitte achten Sie darauf, wenn Sie gleich zu ihr gehen. Tun Sie bitte so, als sei alles in bester Ordnung … auch wenn es Ihnen schwerfällt.»
Konnten Worte einem derart vor den Kopf schlagen, dass man sich wie betäubt fühlte? «Was … was ist mit ihr?», fragte Kristin. Ihr Stimme klang fremd, nicht wie ihre eigene.
«Nun … ihr Sprachzentrum hat, wie zunächst befürchtet, nicht gelitten. Sie kann einwandfrei sprechen. Allerdings, was sie sagt, klingt doch recht merkwürdig. Sie dürfen das aber auf keinen Fall überbewerten, Frau Merbold. Ihre Mutter hatte einen schlimmen Unfall, der ein Trauma hinterlassen hat. So etwas kommt recht häufig vor. Die logischen Strukturen ihres Hirns sind noch nicht wieder voll einsatzbereit, und in Erinnerung an das, was passiert ist, gibt sie dem Keller mehr oder weniger die Schuld für den Unfall. Aber das wird kein Dauerzustand bleiben. In ein oder zwei Tagen sieht das schon ganz anders aus, glauben Sie mir. Vergessen Sie bitte nicht, Frau Merbold, dass Ihre Mutter fast eine Woche in einer Welt gelebt hat, von der wir so gut wie nichts wissen. Stellen Sie sich vor, Sie erwachen aus einem intensiven Traum … so ähnlich ist es hier.»
Kanamara hatte eine Menge Worte benutzt, doch nur drei davon waren bei Kristin haften geblieben. «Glauben Sie mir», hatte er gesagt und damit einen Fehler begangen. Denn dieses «Glauben Sie mir» hatte sich für Kristin wie betteln angehört; als bettele er darum, dass sie ihm doch seine Unwissenheit oder vielleicht sogar seine fromme Lüge abnehmen solle. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren eingetreten. Ilse ein Pflegefall! Ein Mensch, den man nicht mehr allein lassen konnte. Ihre Mutter zu pflegen war aber das Letzte, was Kristin wollte.
«Kann … kann ich zu ihr?»
Kanamara nickte. «Natürlich, aber denken Sie bitte daran, was ich Ihnen eingangs sagte: Egal, wie sich Ihre Frau Mutter verhält, tun Sie bitte so, als sei es völlig normal. Für sie ist es das, und ihr geschwächter Verstand würde noch nicht damit zurechtkommen, wenn jemand sie für … ich meine, wenn sich jemand vor ihr erschrecken würde.»
Sie standen auf und verließen gemeinsam das Büro. Dr. Kanamara führte Kristin in einen anderen Bereich des Krankenhauses, da Ilse nicht mehr auf der Intensivstation lag. Er geleitete sie bis vor die Zimmertür. Dort verabschiedete er sich mit dem Hinweis, es sei besser, sie spreche zunächst allein mit ihrer Mutter. Genau das wollte Kristin aber nicht. Sie wollte nicht allein sein mit einer geistig Verstörten. Was spielte es da für eine Rolle, dass es sich um ihre Mutter handelte? Natürlich traute sie sich aber nicht, das Kanamara gegenüber zuzugeben. Wortlos sah sie ihm nach. Als er an einer Ecke verschwand, wandte sie sich der Tür zu und nahm das zusammen, was von ihren Kräften noch übrig war. Viel war es nicht. Schließlich atmete sie tief ein, umklammerte mit der linken Hand den Riemen der Handtasche und klopfte mit der rechten gegen die Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ein.
Das Zimmer war kleiner als das vorige, ockerfarbene Vorhänge verdunkelten es, und es roch unangenehm nach etwas Unidentifizierbarem. Leise schloss Kristin die Tür und trat ans Bett. Die meisten medizinischen Geräte waren verschwunden, nur der Infusionsständer mit einer halbleeren Flasche stand noch links neben dem Bett. Der Blumenstrauß, den Kristin vorgestern mitgebracht hatte, stand auf dem Beistellwagen. Seine ursprüngliche Pracht hatte er eingebüßt.
Erst als Kristin nah am Bett stand, konnte sie erkennen, dass Ilse sie aus weit aufgerissenen Augen anstierte. Das Weiße darin leuchtete so übertrieben wie die Zähne in Kanamaras Gesicht.
«Kristin …», flüsterte sie heiser, «endlich …»
Bein und Arm waren noch in Gips, und wegen des angebrochenen Brustwirbels lag Ilse in einem speziellen Korsett, in dem sie sich nicht bewegen konnte. Nur ihren Kopf und ihren linken Arm hatte sie unter Kontrolle. Kristin überwand sich und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich … alt an.
«Mama …» Ein halb verschluckter Laut, kaum als ihre eigene Stimme zu erkennen. Sie räusperte sich. «Ich bin so froh, dass es dir wieder bessergeht.» Schon erstaunlich, wie ihr der Satz über die Lippen kam. Der Arzt hatte gesagt, geh rein und belüge deine Mutter ein bisschen, und sie ging tatsächlich hinein und belog
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