Der Gesang des Blutes
versuchte es wieder und wieder, und tatsächlich, zunächst ohne dass sie es wirklich bemerkte, entstand ein Bild.
Als sie den Cherokee vom Parkplatz des Krankenhauses lenkte, war sie noch gewillt, Dr. Kanamara uneingeschränkt recht zu geben. Ihre Mutter gab tatsächlich dem Haus die Schuld an ihrem Unfall. Sie war … verwirrt. Verwirrt war genau das richtige Wort, denn verwirrt ging noch in Ordnung. Wer nur verwirrt war, für den bestand durchaus noch Hoffnung. Für Verrückte leider nicht. Doch während Jeepi unter dem bleigrauen Dezemberhimmel Kilometer um Kilometer fraß, sorgten verschiedene Puzzleteile dafür, dass Kristin immer unsicherer wurde.
Flieh aus diesem verfluchten Haus … es ist im Keller … im Keller.
Ilse hatte das aus tiefer Überzeugung gesagt. Das mochte an ihrem Zustand liegen, doch da gab es etwas, was Kristin stutzig und misstrauisch werden ließ: Es ist im Keller. Was auch immer Ilse mit «Es» meinte, sie war der Überzeugung, dass es im Keller war. Im Keller!
Am Abend zuvor, das merkwürdig gespannte Gespräch in der Küche der Möncks. Johann hatte gefragt, ob sie den Keller noch benutzten. Und dann war er zusammen mit Hanna und Maria praktisch über sie hergefallen, um sie davon zu überzeugen, den Keller zu verschließen. Kristin brauchte nicht lange in ihrem Inneren zu wühlen, um sich an jene Gefühle zu erinnern, die sie beim ersten Betreten des Kellers gehabt hatte. Tot war ihr das Loch vorgekommen, tot und unheimlich. Und in ihrem letzten Albtraum hatte sie dort unten gelegen und gefühlt, dass etwas in der Dunkelheit lauerte. Etwas … Unbeschreibliches, Undenkbares! Was stimmte nicht mit dem Keller? Warum war Ilse die Treppe hinuntergestürzt? Weil sie steil und schmal und Ilse eine alte Frau war? Oder weil irgendetwas sie erschreckt hatte? Aber, mein Gott … was sollte das sein? Über was dachte sie hier nach?
Über das, was mich in meinen Träumen quält, über den Reim, der mich in meinen vier Wänden wie ein böses Omen verfolgt; über die merkwürdigen Worte, über Johann, Maria und Hanna, die fast umkommen vor Sorge – und über diese schreckliche Sache mit dem Scherenschleifer.
Oder war das alles nur Zufall?
Ilse war auf den Kopf gefallen, sie war verwirrt, und … ja, vielleicht war sie auch verrückt? Wie sollte sie das wissen, wenn es nicht einmal Dr. Kanamara wusste? Und überhaupt, hatte sie nicht Probleme genug? Der Nachschub klappte wie geschmiert, da brauchte sie sich wirklich nicht drum kümmern. Kristin wollte sich gar nicht kümmern, um überhaupt nichts. Sie hatte es ganz einfach satt, sich kümmern zu müssen. Ohne Tom war alles so schwierig, und weil der Teil ihres Verstandes, der sich nur ungern kontrollieren ließ, Schwierigkeiten gern vermied, ließ Kristin sich von der still gefrorenen Landschaft einfangen, lauschte dem Autoradio und ließ ihren Kopf machen, was er wollte. Und der hatte überhaupt kein Interesse daran, sich mit etwas zu befassen, was im Keller war.
Im Zustand der Gedankenlosigkeit rauschte sie über die Landstraße und verpasste sogar die Abfahrt nach Althausen. Auf der Einfahrt eines Bauernhofes wendete sie den Cherokee und fuhr zurück. Sie wollte einfach nur nach Haus und vom Rest der Welt in Ruhe gelassen werden. Zumindest für heute. Irgendwann reichte es nämlich.
Gegen halb drei erreichte sie den Hof der Möncks. Als sie aus dem Wagen stieg, fielen erste kleine Schneeflocken. Sie erinnerte sich an die Prophezeiung der Wetterfrösche, dass es einen Schneesturm geben würde. Jetzt schien es tatsächlich loszugehen.
Lisa wollte noch nicht nach Hause. Kristin setzte sich für ein paar Minuten in die Küche der Möncks und berichtete Johann und Maria von ihrem Krankenhausbesuch. Ohne zu zögern, belog sie ihre einzigen Nachbarn. Sie sagte nichts von den Hirngespinsten, die Ilse so giftig ausgestoßen hatte, erzählte ihnen nur, dass sie erwacht sei, sich aber noch in einem schlechten Zustand befand. Die Möncks schauten betroffen drein, und wieder hatte Kristin den Eindruck, sie wollten unbedingt etwas loswerden. Sie sagten jedoch nichts, und Kristin fragte nicht nach. Es interessierte sie nicht. Nicht heute … und morgen wahrscheinlich auch nicht.
Nach einer Tasse Tee wollte Lisa noch immer nicht mit. Es fiel Kristin nicht leicht, den bittenden Augen ihrer Kleinen zu widerstehen, doch sie wollte nicht allein nach Hause fahren. Nichts wollte sie weniger, als dort drüben allein sein. Johann bot an, Lisa später mit dem
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