Der Gesang des Blutes
letzten beiden Worte brüllte er so laut, dass Kristin zusammenfuhr und sofort ausführte, was ihr befohlen wurde. Sie setzte sich auf einen Stuhl und zog einen zweiten ganz nah zu sich heran. Lisa wollte sich nicht von ihr lösen. Kristin beruhigte sie flüsternd, mühte sich ab, die kleinen, aber erstaunlich kräftigen Finger von ihrem Hals zu lösen. Als sie auf dem anderen Stuhl saß, vermied Lisa es, den Mann anzusehen, blickte starr nach unten. Kristin legte den linken Arm um ihre zitternde Tochter und zog sie so weit zu sich heran, wie es nur ging. Dabei sah sie den Fremden unentwegt an.
Er hatte Lisa geschlagen, das wurde ihr erst jetzt bewusst. Kristin hatte Angst, aber sie spürte auch Wut. Längst nicht genug, um auf den Mann loszugehen, aber sie reichte, die Angst auf ein erträgliches Maß zu dämpfen. Instinktiv spürte sie, wie gefährlich es war, ihn zu reizen. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, und er würde explodieren, daran zweifelte Kristin nicht. Sie schaffte es nicht, seinem Blick länger als ein paar Sekunden standzuhalten, zu stechend, zu aggressiv war er.
Auf der Arbeitsplatte der Küche entdeckte sie eine zur Hälfte geleerte Flasche Mineralwasser und eine geöffnete Dose Würstchen. Trotz des überhasteten Aufbruchs am Vormittag war sie sicher, jene Dinge nicht dort stehengelassen zu haben. Folglich hatte der Einbrecher von ihren Vorräten gegessen und getrunken. Kristin war zunehmend verwirrt, konnte sich nicht vorstellen, was das alles sollte.
«Fie heiß du?»
Kristin räusperte sich. «Kristin Merbold.»
«Und fas fill Stolz von dir?»
Kristin begriff nicht. Was sollte ihr Stolz von ihr wollen? Was war das für eine merkwürdige Frage? Ein erschreckender Verdacht stellte sich plötzlich ein. War der Mann kein gewöhnlicher Einbrecher, sondern ein Geistesgestörter? Ein ausgebrochener Irrer?
«Ich … ich verstehe nicht», sagte sie. Lisa zitterte in ihrem Arm.
«Hör nal, Nädchen, nach nir nichts vor, ja. Ich hag noch von jeden erfahren, fas ich fissen follte. Esser, du gist mir die richtigen Antforten, sonst nehne ich nir deine Kleine for. Also, fas fill Roert Stolz von dir?»
Jetzt fiel der Groschen bei Kristin. Es handelte sich um einen Namen. Wenngleich auch um einen, den sie noch nie gehört hatte. «Ich kenne keinen Robert Stolz. Was soll das alles?!»
Der Mann ging zwei Schritte auf sie zu, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und beugte sich hinunter. Wieder schlug ihr der Geruch scharfer Bonbons entgegen.
«Erzähl keinen Scheiß. Ich hag ihn un dein Haus schleichen sehen. Ihr fart doch veratredet, oder? Konnt er noch nal her oder hat ihr euch foanders getroffen?»
Jemand war um ihr Haus geschlichen? Kristin verstand immer weniger. In ihrem Kopf rasten die Gedanken, es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Was war das nur für ein Geplapper? Wie sollte sie auf solche Fragen Antworten geben, die den Fremden zufriedenstellten? Sie wollte ihn nicht reizen, konnte aber nicht mehr sagen als: «Ich … ich weiß wirklich nicht, was Sie von uns wollen. Wenn Sie Geld wollen …»
«Siehst du, Nädchen, da konnen wir der Sache doch schon näher. Hat er es hier ei dir versteckt? Färe doch genial, hier draußen auf den Lande! Und inner fenn dieser Arsch ein taar Scheine traucht, konnt er raus, vögelt dich und fährt mit den Geld zurück. Ich fill für dich hoffen, dass ihr noch nicht zu viel Geld ausgege… ausgege… hat.»
Er grinste Kristin mit seinen halben Lippen an. Unwillkürlich zog sie Lisa noch ein Stück näher zu sich heran.
«Also, fo ist nein Geld?»
«Ich … ich weiß wirklich …»
Die Hand des Fremden schoss nach vorn, griff in Kristins Haar und riss daran. Ruckartig wurde ihr Kopf nach vorn gezogen. Kristin schrie, ebenso Lisa.
«Schnause halten», schnauzte der Einbrecher sie an, riss noch heftiger an ihrem Haar. Kristin wusste nicht, was sie zuerst tun sollte. Es tat weh, doch ihre Gedanken galten Lisa. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht ihren Arm von der Kleinen zu nehmen. Als er wieder sprach, befand sich sein Mund ganz dicht an ihrem Ohr.
«Zun letzten Nal. Fo ist das Geld?»
Knapp und tonlos war die Frage gestellt. Kristin war sofort klar, dass eine falsche Antwort schlimme Konsequenzen haben würde. Sie rang nach Worten, konnte aber letztlich nichts anderes tun, als die Wahrheit zu sagen. Sie wusste nichts von irgendwelchem Geld.
«Bitte … bitte, tun Sie uns nichts … ich hab kein Geld im Haus,
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