Der Gesang des Blutes
ihre Mutter ein bisschen.
«Ich … ich muss dir was sagen, mein Kind, es ist wichtig, sehr wichtig, aber ich bin so müde. Die haben mir ein Schlafmittel gegeben, aber ich muss es dir unbedingt erzählen, bevor … bevor ich einschlafe …»
Ihre Stimme wurde leise, ihre Lider flatterten. Kristin setzte sich vorsichtig auf die Kante des Bettes und beugte sich zu ihr hinunter. Dabei hielt sie ihre kalte Hand fest, auch wenn sie sie lieber losgelassen hätte.
«Du kannst mir doch später alles erzählen, Mama, jetzt ist es erst mal wichtig, dass …»
«Nein!» Scharf unterbrach Ilse ihre Tochter. «Das ist wichtig, nichts anderes! Euer Leben ist in Gefahr!»
Ilses Finger gruben sich in Kristins Hand.
«Was sagst du da?»
«Ihr … ihr müsst das Haus verlassen, unbedingt, ihr dürft nicht länger dort bleiben. Es ist zu gefährlich … viel zu gefährlich …»
«Mama, bitte drück meine Hand nicht so fest, du tust mir weh!»
Der Griff wurde noch fester. «Du musst mir glauben. Verlasst das Haus. Es ist böse!»
Das letzte Wort spuckte Ilse so giftig aus, wie man es von einer zahnfaulen Hexe in einem Grimm’schen Märchen erwartet hätte. Kristin erschrak, erinnerte sich aber an Kanamaras Worte. Sie riss sich zusammen, obwohl sie beinahe aufgesprungen und vor ihrer Mutter zurückgewichen wäre. Sie machte ihr Angst; nicht mit dem, was sie sagte, sondern wie sie es sagte. Wie eine Verrückte. «Mama … bitte!»
«Nimm Lisa und zieh in ein Hotel. Geht nicht wieder dorthin zurück, nicht einmal zum Kofferpacken. Es ist im Keller … und bald kommt es herauf. Dann müsst ihr fort sein … weit … so weit es nur geht.»
Während sie sprach, flackerte in Ilses Augen etwas, das Kristin bei einem gesunden Menschen als Enthusiasmus bezeichnet hätte, doch wie sie so dalag, mit ihrem struppigen weißen Haar und der kahlen Stelle in der Mitte des Schädels, sah Kristin in dem Flackern nichts anderes als beginnenden Irrsinn. Das tat ihr weh, sehr weh, und es kostete sie Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.
«Mama … bitte, sag so etwas nicht. Du machst mir Angst.»
«Du sollst auch Angst haben», schrie Ilse, «zum ersten Mal in meinem Leben will ich, dass du Angst hast. Flieh aus diesem verfluchten Haus … Nimm deine Tochter und flieh … Es ist im Keller … im Keller … Es hat mich … mich …»
Abermals flatterten Ilses Lider. Sie kämpfte dagegen an, doch die Dosis des Schlafmittels war zu großzügig bemessen, als dass sie den Kampf gewinnen konnte. Die Schwester, die es ihr verabreicht hatte, war absichtlich nicht sparsam gewesen. Die Station war voll; sie hatte schon mehr als genug zu tun und brauchte nicht noch eine geifernde alte Frau, die viel zu früh erwachte und ihre Horrorgeschichten zum Besten gab. Der Doktor hatte viel Schlaf verordnet, Schwester Katrin hatte viel Schlaf verabreicht.
«… im Keller …», hauchte Ilse noch einmal, bevor ihre Lider zufielen. Der schmerzhafte Griff ihrer Hand ließ nach. Kristin wollte sich ihm entwinden, als Ilse ihre Augen plötzlich wieder aufriss und den Griff nochmals verstärkte.
«Versprich es mir», forderte sie herrisch. «Du musst mir versprechen, dass ihr beiden sofort das Haus verlasst. Es ist im Keller!»
Kristin erinnerte Kanamaras Worte. Zeigen Sie ihr, dass alles ganz normal ist. Also nickte sie, versuchte sich in einem beruhigenden Lächeln und sagte: «Ich verspreche es dir, Mama.»
Einen Moment sah Ilse sie schweigend an. Das Flackern in ihren Augen war verschwunden, sie wirkte nur noch müde – und verängstigt. Ihre Hand sackte auf das Laken zurück, dann fielen ihre Lider endgültig herunter. Zutiefst verunsichert blieb Kristin am Bettrand zurück.
Seine Lippen schmerzten. Diese verfluchte Kälte schien in das verbrannte Fleisch hineinzukriechen und es erneut zum Brennen zu bringen. Kleine hässliche Stiche schossen bis ins Gehirn. Längst wummerte eine Legion Hämmer in seiner rechten Augenhöhle. Diese Kopfschmerzen! Sie kamen immer wieder, seit seine linke Gesichtshälfte an dem Ofen verbrannt war.
Radduks Hand schloss sich um den Griff seiner Waffe. Die Knöchel traten weiß hervor, die Gelenke knackten. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Alles in ihm schrie danach, auszusteigen, sich den Kerl zu kaufen und ihm das Leben aus dem Leib zu prügeln. So wie diesem schwulen Wichser. Aber das ging nicht. Dann würde er sein Geld niemals bekommen. Und offensichtlich ging sein Plan ja auf. Warum wohl fuhr Robert Stolz so
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