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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Männer ihr lange Blicke nachgeworfen. Sie hatte nie etwas dagegen gehabt. Schließlich konnte sie nicht dafür, dass Gott ihr diesen Körper gegeben hatte. Sie hätte sich abwenden, ins Haus eilen und züchtig zurechtmachen müssen. Sie war verheiratet! Zu Recht würde ihr Mann sie prügeln, wenn er eines solchen Verhaltens gewahr würde. Aber sie tat es nicht.
    Sie fand dieses Spiel erregend, schließlich hatte ihr Mann sie unbefriedigt auf dem Rand des Spülbeckens zurückgelassen. So schlimm war es nun auch wieder nicht, sich durch die Blicke des Scherenschleifers das Pochen zurückzuholen. Zu mehr, daran bestand kein Zweifel, wollte sie es nicht kommen lassen.
    Ihre Finger zitterten, als sie dem Scherenschleifer das Messer übergab. Einen Moment hielten sie es beide fest, er an der Klinge, sie am Griff, und sie glaubte, etwas zu spüren, das sich durch das Messer auf sie übertrug. Dann wandte er sich ab, ging zu seinem Handwagen, zog einen dreibeinigen Hocker hervor und setzte sich darauf. Sie blickte auf seinen Rücken, während er eine Lade öffnete und einen Schleifstein herausnahm. Prüfend hielt er den länglichen grauen Stab ins Licht der Sonne. Es schien nicht der richtige zu sein. Er legte ihn zurück, kramte einen anderen hervor, prüfte ihn auf die gleiche Art und begann, damit ihr Messer zu schleifen.
    Sanfte Bewegungen, ein leichtes Wiegen des Oberkörpers, dem Rhythmus des Schleifens angepasst, schabende Geräusche. Plötzlich begann er zu singen. Als der erste Ton sich von seinen Lippen löste, fuhr sie zusammen. Ihr Herz pochte, sie presste ihre rechte Hand gegen das nackte Fleisch ihrer Brust. Ein großer schwarzer Vogel, der in der Ruhe des sonnigen Vormittags gedöst hatte, flatterte aus der jungen Kastanie neben dem Haus davon. Der Scherenschleifer schliff und sang.
    «Ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.»
    Eine wunderschöne Stimme, die sich wie das leichte Vibrieren eines schweren Wagens oben auf der Straße in ihren Körper stahl. Sie hörte seine Stimme nicht nur, nein, sie spürte sie auch. In jede Faser ihres Fleisches glitt sie mühelos hinein. Nur diese eine Strophe sang der Scherenschleifer, ruhig und gleichmäßig verrichtete er dabei seine Arbeit. Immer wieder diese eine Strophe, immer wieder. In ihrem Kopf breitete sich eine Decke aus, legte sich über ihr Bewusstsein. Ihre Lider sackten hinab, sie konzentrierte sich nur noch auf das feine Timbre in der Stimme. Eine kurze Zeit nur, doch sie reichte aus, ihren Atem zum Rasen zu bringen.
    Plötzlich hörte der Scherenschleifer zu singen auf.
    Hastig öffnete sie ihre Augen; das Sonnenlicht blendete, sie fühlte sich nackt und ausgeliefert. Ihr Busen hob und senkte sich unter ihrem heftigen Atem. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. Der Scherenschleifer stand auf, drehte sich zu ihr um und hob das Messer.
    «Und führ es vor an meinem Blut …»
    Dann hob er seine linke Hand, streckte den Daumen aus und legte die geschliffene Klinge auf die Kuppe. Kalt lief es ihr den Rücken hinunter. Sie wusste, was jetzt kam. Gesehen hatte sie diese Prozedur noch nie, die ein Beweis für gute Arbeit war, aber davon gehört. Eine wirklich scharfe Klinge verursacht keinen Schmerz.
    Der Scherenschleifer behielt seinen starren Gesichtsausdruck bei, während er das Messer mit einer sanften Bewegung über den Daumen zog. Scheinbar ohne jeglichen Widerstand schnitt es eine Wunde in die Kuppe, die sofort auseinanderklaffte. Blut quoll daraus hervor.
    In ihrem Hals stieg das Frühstück empor, ihre Kopfhaut zog sich zusammen. Blut mochte sie nicht sehen, noch nie. Rasch wandte sie sich ab.
    «Ich hol das Geld», rief sie und lief ins Haus. Ihr Herz pochte, ihr Atem ging schnell, von dem Ziehen in den Lenden war nichts mehr zu spüren. Sie ekelte sich vor dem, was der Scherenschleifer getan hatte.
    In der Küche stand auf einem hohen Regalbrett eine Tonvase. Sie nahm die Vase herunter, steckte ihre schlanke Hand hinein, tastete mit den Fingern am Boden, fand das Geld und nahm es heraus. Mit zitternder Hand stellte sie das Gefäß an seinen Platz. Als sie auf die dunkle Diele trat, stand ein schwarzer Schatten im Gegenlicht der Sonne unter dem Türbalken. Der schwarze Mann, von dem Mutter so oft gesprochen hatte.
    Scherenschleifer betraten niemals die Häuser, niemals! Allzu leicht wurden sie des Diebstahls bezichtigt, und niemand glaubte einem Vagabunden. Vom Schritt über die Schwelle eines Hauses bis

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