Der Gesang des Blutes
ihre Frage ihn in Verlegenheit brachte. Er wusste nicht, was er antworten sollte, und bevor er es tat, sah sein Gesicht wie das eines gequälten Kindes aus, von dem man wissen wollte, warum es den Schokoriegel aus dem Laden gestohlen hatte.
«Ich, ich hab nur nachgesehen», druckste er herum.
«Wonach? Nach einer Leiche?»
Das kam scharf und wie aus einer Pistole geschossen. Kristin überraschte sich damit selbst und, wie sie in seinen Augen sah, auch Robert. Er suchte nach Worten. «Wie geht es Ihrer Tochter?», fragte er ausweichend.
«Sie schläft. Also, was wollten Sie im Keller? Da liegt doch nur eine Leiche. Oder gibt es etwas, das ich wissen sollte?» Erneut schlug sie diesen scharfen Ton an.
«Ich meinte ein Geräusch gehört zu haben. Also habe ich nachgesehen.»
«Nach einer Leiche?» Kristin glaubte ihm nicht. Sie hatte dieses weißliche Zeug an der Wohnzimmertür herabrinnen sehen.
Robert trat einen Schritt vor, drängte sie damit in die Diele zurück und schloss die Kellertür. «Kommen Sie», sagte er und ging voran ins Wohnzimmer. «Wir müssen reden.»
Kristin folgte ihm. Lisa hatte sich nicht gerührt. Sie lag auf dem Rücken, das Kinn weit nach oben gereckt, ihr Mund stand auf. Noch immer schnarchte sie leise. Kristin ging zu ihr, um unnötigerweise die Decke noch mal fest zu stopfen.
«Sie ist süß», sagte Robert, der sie dabei beobachtete.
Kristin drehte sich zu ihm. «Ja, süß und ohne Vater. Und alles, was mir geblieben ist. Ziemlich große Last für eine Vierjährige, finden Sie nicht auch?» Wieder sprach sie mit dieser scharfen Stimme, die ihr selbst wie ein Eindringling in ihrem Körper vorkam. Sie wollte das eigentlich nicht, konnte aber nichts dagegen tun. In ihr schien eine andere Kristin zu sein, die endlich wissen wollte, was mit ihrem Leben geschah, die sich nicht mehr nur auf andere verlassen wollte.
«Tut mir leid», sagte sie, «ich wollte Sie nicht …»
«Sie brauchen sich nicht entschuldigen, wirklich nicht.» Er kam einen Schritt auf sie zu. «Ich kann Sie verstehen. Ich wünsche Ihnen beiden, dass es bald vorbei ist und Sie ein normales Leben fuhren können.»
Sie sahen sich einen Moment länger an, als nötig gewesen wäre. Kristin empfand es als intim, einem Menschen so lange in die Augen zu sehen. Sie fühlte sich unwohl, begann zu blinzeln und wandte den Blick ab.
«Wir müssen reden, haben Sie gesagt.» Die Schärfe in ihrer Stimme war verschwunden.
Sie setzten sich. Robert holte die Waffe aus dem Schulterhalfter und legte sie neben sich. In Griffweite.
«Warum tun Sie das?», fragte Kristin.
Er zuckte mit den Schultern, «Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll.»
«Etwas stimmt nicht mit dem Keller, oder?» Kristin schüttelte den Kopf, ihr Blick ging ins Leere. «Sie hat recht gehabt, großer Gott, sie hat doch recht gehabt.»
«Wer hat recht gehabt und womit? Und was ist mit dem Keller?»
«Meine Mutter, sie hat …», Kristin zögerte, sah ihn an. «Ich erzähle es Ihnen gleich, aber sagen Sie mir bitte erst, was Sie im Keller gesehen haben.»
Also erzählte Robert Kristin, was er im Keller vorgefunden hatte, oder besser, nicht vorgefunden hatte. Radduk war verschwunden. Dort unten lag keine Leiche mehr, nur noch die blutgetränkte Wolldecke. Und draußen im Schnee waren frische Spuren.
Noch während Robert sprach, zählte Kristin eins und eins zusammen. Die merkwürdigen Worte, Hannas Horrorgeschichte, Johanns überbordende Besorgnis, ihre Träume, der Reim – und zu guter Letzt die deutlichen Worte ihrer Mutter. Plötzlich fügte sich alles zusammen. Mit dem Haus stimmte etwas nicht. Mit dem Keller stimmte etwas nicht.
Nimm Lisa und zieh in ein Hotel … Geh nicht wieder ins Haus, nicht einmal zum Kofferpacken … Es ist im Keller.
Aber sie war doch wieder ins Haus gegangen, hatte Ilse nicht geglaubt, hatte sie lieber für verrückt gehalten, weil es ja so viel einfacher war. Und jetzt war es zu spät. Jetzt sah es ganz so aus, als sei es nicht mehr im Keller. Als sei es nun …
Kristin mochte nicht zu Ende denken. Sie erzählte Robert davon, hatte aber Mühe, ihre Befürchtungen in Worte zu fassen. Wie konnte man etwas Unfassbares formulieren, ohne verrückt zu klingen?
Als sie fertig war, nahm Robert seine Waffe in die Hände, spielte mit dem Entsicherungshebel und sagte schließlich mit rauer Stimme: «Kristin, wissen Sie eigentlich, worauf das hinausläuft?»
Sie nickte nur. Es auszusprechen war nicht nötig. Vielleicht
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