Der Gesang des Blutes
an den Galgen war es nicht weit. Scherenschleifer kamen nicht in die Häuser, nie! Dieser aber tat zwei Schritte und stand auf der Diele.
«Das … das Geld …», stotterte sie und streckte ihre Hand aus.
Er griff nicht nach dem Geld, sondern nach ihrem Handgelenk. Sein Griff war hart und fest wie ein Stahlring, selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte sich nicht dagegen wehren können. Sie ließ sich heranziehen. Ganz dicht befand sich sein vom Bart verwuchertes Gesicht vor dem ihren. Sein Atem war warm und roch unangenehm.
Dann griffen seine Hände blitzschnell in den geöffneten Ausschnitt ihres Kleides, zerrten daran, rissen es bis zum Bauchnabel auseinander. Die Knöpfe sprangen davon und landeten geräuschlos auf dem Lehmboden der Diele. Der Griff seiner Hände an ihrer Brust tat weh, doch der stechende Schmerz holte sie in die Wirklichkeit zurück. Vergessen war plötzlich sein einschläfernder Gesang und seine wohltuende Stimme. Da war nur noch Schmerz.
Sie schrie, trat, schlug mit den Fäusten und befreite sich von ihm. Aber sie stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht, fiel auf den Rücken. Bis über die Knie rutschte ihr Kleid hoch, und der Scherenschleifer konnte sehen, dass sie nichts darunter trug …
Kristin erwachte. Sie spürte Lisas Herz gleichmäßig pochen, ein beruhigendes Gefühl. Ihr eigenes Herz raste. Das Wohnzimmer lag still im Halbdunkel, nur dürftig erhellt von der kleinen Kaminlampe. Sie sah sich um. Toms Sessel war leer. Wo war Robert Stolz? Wie lange hatte sie geschlafen?
Weil sie Lisa nicht wecken wollte, bewegte Kristin sich zunächst nicht, schlief aber auch nicht wieder ein. Viel zu aufgewühlt war sie von ihrem Traum. Noch immer hatte sie das Gefühl, im Körper dieser Frau gewesen zu sein. Sie hatte die Schwangerschaft gespürt, hatte die Nasenflügel des Scherenschleifers beben sehen, als nehme er Witterung auf. Kristin war überzeugt, sich bis ans Ende ihres Lebens daran erinnern zu können. An die geöffneten Knöpfe des Kleides, das unerträglich rote Blut aus der klaffenden Daumenwunde. Sie war verwirrt. Schon einmal hatte sie davon geträumt, ungleich wirrer und mit eigenen Erlebnissen gespickt, aber doch von der jungen Frau, die in diesem Haus getötet worden war.
Es ist böse, verlasst sofort das Haus!
Waren das nur Worte einer alten Frau, die auf den Kopf gefallen war, oder hatte ihre Mutter sie vor etwas warnen wollen, was sie … nun, vielleicht gesehen oder gespürt hatte? Im Keller vielleicht? Was stimmte nicht mit diesem Haus? So vieles war geschehen, seitdem sie hier eingezogen waren. So viel Unerklärliches.
Über das leise Schnarchen ihrer Tochter hinweg hörte Kristin plötzlich Geräusche – und erkannte sie sofort. Das Klacken des Drehschalters oben an der Kellertreppe, dann das Scharren von Sohlen auf den Betonstufen. Jemand ging in den Keller. Das konnte nur Robert Stolz sein. Kristin löste sich vorsichtig von ihrer Tochter und stand auf.
Ich muss ihn warnen, dachte sie. Sie wusste nicht, vor wem oder was, hatte aber das dringende Bedürfnis, Robert von dem zu berichten, was sie über das Haus wusste. Über das, was hier geschehen war, auch wenn es lange zurücklag. Es schien wichtig zu sein. Überlebenswichtig.
Leise zog sie die Wohnzimmertür auf und wunderte sich über die Kälte und den Schnee im Eingangsbereich. Sie ging auf die offen stehende Kellertür zu. Bei den Geräuschen hatte sie sich nicht getäuscht; das Licht brannte tatsächlich. Die Vorstellung der Leiche im Keller hielt sie davon ab, hinunterzugehen. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen, und im selben Moment, als sie «Robert» rief, fragte sie sich, ob das klug war. Schließlich wusste sie nicht wirklich, wer da unten war.
Aber er war es. Und als sie ihn die Treppe hochsteigen sah, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Er trug seine Waffe in der rechten Hand und einen Gesichtsausdruck zur Schau, der nichts mit der Entschlossenheit von vorhin zu tun hatte. Deutlich konnte Kristin sehen, dass seine Selbstsicherheit ins Wanken geraten war. Irgendwas schien ihn mehr als irritiert zu haben. Irgendwas im Keller.
Erst als er oben angekommen war, bemerkte er selbst die Waffe in seiner Hand. Schnell steckte er sie in die Tasche unter seiner linken Achsel.
«Habe ich Sie geweckt?», fragte er flüsternd. Seine Stimme zitterte. Sie schüttelte den Kopf. «Nein, ich habe schlecht geträumt. Was haben Sie im Keller gemacht?»
Sie konnte sehen und spüren, wie sehr
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