Der Gesang des Satyrn
wäre von Phanos Tat zu erschüttert, als dass er darüber sprechen wollte. Immer häufiger vergrub sich Stephanos abends in seinen Räumen und brütete über seinen Gerichtsreden, und morgens verließ er früh das Haus. Die kurze Leidenschaft, die zwischen Neaira und Stephanos aufgeflammt war, kehrte nicht zurück. Phanos Tat hatte sie einander mehr entfremdet als Phrynions Intrigen es vermocht hatten. Neaira schmerzte es zu spüren, wie sie sich abermals entfremdeten, doch größer noch als ihr Schmerz war ihre Angst. „Stephanos ist der einzige Schutz, den Phano und ich haben. Wenn er uns verstößt, werden wir Männern wie Proxenos ausgeliefert sein“, sagte sie immer wieder zu Kokkaline und Thratta.
Neaira fürchtete nicht nur um sich und Phano, sie schärfte auch ihren Sklavinnen ein, Proxenos aus dem Weg zu gehen. Dessen Zorn nahm mittlerweile Ausmaße an, dass Neaira um Phanos und ihr eigenes Leben fürchten musste.
„Wenn er uns nichts anhaben kann, wird er sich vielleicht denjenigen zuwenden, die schwächer sind. Seid auf der Hut! Stephanos ist im Augenblick kein wirklicher Schutz,“
Neaira meinte zu wissen, was es war, das Stephanos von ihr fernhielt. So wie er ihr stets ihre Freiheiten gelassen hatte, erwartete Stephanos von seiner Tochter das Gegenteil.
Niemals hätte er ihr weniger Wert zugemessen als den Söhnen seiner Gattin; doch Phanos für ihn unbegreifliche Schamlosigkeit ließ ihn grübeln, ob es nicht doch Neairas Blut war, das seine Tochter zu ihrer Tat bewogen hatte.
Neaira spürte seine giftigen Gedanken, wenn seine Blicke beim gemeinsamen Abendmahl auf ihr ruhten. Dass Stephanos so über sie dachte, verletzte Neaira tief in ihrem Herzen, obwohl sie es nicht zeigte. Auch jetzt machte Stephanos ihr keine Vorwürfe. Doch Neaira meinte sie in seinen Augen lesen zu können und zog sich oft mit Kokkaline und Thratta in ihre Räume zurück, so als könnte sie durch ihre Zurückhaltung Phanos Schamlosigkeit wieder gut machen.
Drei Mondumläufe vergingen, ohne dass sich etwas änderte – Phano betrank sich, Stephanos und Neaira mieden die Nähe des anderen; Neaira meinte, verrückt zu werden. Sie wusste nicht, um wen sie sich mehr sorgen sollte - um Phano, um Kokkaline und Thratta oder um sich selbst. Die Stimmung war giftig wie die Blätter und Dolden des Schierlings, mit dem Phrynion sich das Leben genommen hatte. Sie alle waren schutzlos, wenn Stephanos nicht zur Besinnung kam.
Eines Nachmittags stand Stephanos überraschend in Neairas Räumen und bat sie, am Abend beim Empfang eines Gastes anwesend zu sein. Es schien ihn Überwindung zu kosten, sie zu fragen. Neaira überlegte nicht lange und willigte ein. Es war ein Anfang, ein silbrig glänzender Hoffnungsstreifen an einem fernen Horizont, und sie war glücklich darüber.
„Theogenes ist jung und unerfahren, aber er wurde von den Bürgern Athens in das ehrenvolle Amt des Archon Basileus gewählt. Zweimal hat der Rat ihn geprüft, und ich habe ihm beigestanden. Jetzt muss er noch zwei Beisitzer für sein Amt wählen. Ich werde einer dieser Beisitzer sein und möchte das Vertrauen von Theogenes gewinnen. Er ist zwar kein wohlhabender Mann, aber das Amt wird ihm Einfluss verschaffen.“
Mit diesen Worten gab Stephanos ihr zu verstehen, wie wichtig der Besucher für ihn war, und dass er ihren Beistand und ihren Rat brauchte. Es war nicht viel, aber ein Anfang! Neaira wies die Sklaven an ein Mahl zu bereiten, das einem Herrscher aus dem Orient würdig gewesen wäre.
Die Sklaven ächzten unter den vielen Amphoren, die sie schleppen mussten. Stephanos und sein Gast sollten keinen Grund haben, sich über sie zu beklagen. Wie ein ängstlicher Hund umschleiche ich meinen Herrn , dachte Neaira, während sie 599
die Sklaven anwies sorgfältig zu arbeiten. Doch auch ein Hund will in Frieden leben dürfen!
Der ungeschickte Mann, der Stephanos an diesem Abend gegenübersaß, hatte eines der wichtigsten religiösen Ämter Athens zugeteilt bekommen. Es war nicht nur Neaira, sondern auch Stephanos vollkommen unverständlich, weshalb die Wahl auf Theogenes gefallen war. Er verhielt sich hündisch ergeben gegenüber dem viel älteren Stephanos, den er zu einem seiner Beisitzer hatte bestimmen lassen. Es war nicht zu übersehen, dass er überfordert vor einem Berg von Anforderungen stand und sich von Stephanos Hilfe in Rat und Tat erhoffte. Die Aufgaben, die in seinem Amtsjahr anfielen, würden die Entscheidungen über religiöse Streitigkeiten
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