Der Gesang des Satyrn
diesmal, um den Störenfried ein für alle Mal aus Athen zu verbannen. Neaira traf in dieser Zeit viele Gäste in Stephanos Haus, die sie nie zuvor gesehen hatte. Auf ihr Nachfragen erklärte Stephanos ihr, dass es Zeugen wären, die vor Gericht seine Anklage gegen Apollodoros unterstützen würden. „Dieses Mal muss er für immer unschädlich gemacht werden“, vertrat Stephanos seine Meinung gegenüber Neaira verbissen.
„Es geht dir doch vielmehr um deine persönliche Rache als um den Kriegsfond oder um Phano“, entgegnete Neaira, die hilflos die Verhärtung seines Herzens ihren und Phanos Gefühlen gegenüber mit ansehen musste.
„Das stimmt!“, gab Stephanos ohne Zögern zu. „Er hat meine Ehre befleckt ... Phano ist meine Ehre!“
„Phano ist deine Tochter ... sie sitzt in ihren Gemächern und trinkt sich zu Tode. Hast du sie in den letzten Wochen einmal angesehen, Stephanos?“
„Ich werde den Verlust ihrer Ehre rächen“, antwortete er stur. Damit war das Gespräch für ihn beendet.
Phano braucht nicht deine Rache ... sie braucht deine Liebe!
Wenigstens von dir, da ich ihr die meine nicht geben kann , dachte Neaira bei seinen Worten. Doch es gelang ihr nicht, Stephanos umzustimmen.
Seltsame Gestalten besuchten Stephanos Haus spät am Abend oder auch tief in der Nacht. Stephanos wollte nicht, dass Neaira bei diesen Treffen anwesend war, was sie misstrauisch werden ließ. Oft versteckte sie sich an der Fensteröffnung ihrer Räume, um etwas von dem mitzubekommen, was unten vor sich ging. Doch Stephanos brachte seine geheimnisvollen Gäste in seine eigenen Räume, um mit ihnen zu sprechen. Auch Kokkaline, die Neaira schickte an Stephanos Tür zu lauschen, konnte ihrer Herrin nicht sagen, was vor sich ging. Dies ging etwa einen Mondumlauf so, dann teilte Stephanos Neaira gut gelaunt beim Abendmahl mit, dass er nun bereit sei, die Anklage gegen Apollodoros vor das Gericht zu bringen. „Dieses Mal ist alles gut durchdacht. Apolldoros wird für immer aus Athen verschwinden. Ich werde ihn wegen Mordes anklagen!“
„Wen hat er denn ermordet?“, fragte Neaira entsetzt.
„Niemanden“, eröffnete ihr Stephanos. „Aber ich habe genügend Männer, die bezeugen werden, dass er einen Mord begangen hat.“
Neaira konnte kaum glauben, wie weit Stephanos bereit war zu gehen, um den ungeliebten Gegner loszuwerden.
„Was kann eine Frau schon tun in dieser Männerwelt?“, fragte Neaira Kokkaline, als sie ihr am Abend das Haar löste und mit einem Elfenbeinkamm die grauen Strähnen kämmte, von denen es immer mehr zu geben schien.
„Nichts“, antwortete Kokkaline in der ruhigen Art, die ihr zu eigen war. „Wir sind dazu geboren hinzunehmen und zu erdulden.“
„Früher dachte ich einmal mein Schicksal selbst bestimmen zu können, wenn ich nur klug genug bin.“
„Du hast dein selbst Schicksal bestimmt, Herrin! Viele Male sogar. Doch am Ende unterliegst auch du der Willkür der Männer ... so ist es von den Göttern bestimmt.“
„Die Götter“, presste Neaira hervor und betrachtete die Falten ihres gealterten Gesichts.
„Was wissen sie schon, die sie ewig herrschen und ewig jung bleiben?“
„Sie haben die Ewigkeit, Herrin, aber du hast sie nicht.
Geh zu deiner Tochter und sprich mit ihr. Sprich die Dinge aus, die nie ausgesprochen worden sind. Dies zumindest ist ein Schicksal, das du ändern kannst.“
Argwöhnisch musterte Neaira Kokkaline. Ihr rätselhaftes Kätzchen hatte noch niemals gewagt, so mit ihr zu sprechen. „Du hast mir geschworen ihr nicht zu sagen, dass sie meine Tochter ist.“
Die Sklavin fuhr ungerührt fort, ihr das Haar zu kämmen. „Deshalb werde ich es auch nicht tun, Herrin. Ich kann dich nur bitten, es ihr selbst zu sagen. Es würde die Mauer aus Schweigen und das Meer von Lügen, in dem ihr beide schwimmt, ein für alle Mal aus dem Weg räumen.
Vielleicht ist Phano wütend auf dich – aber sie wird endlich wissen, wer sie ist.“
Kurz überlegte Neaira, ob sie auf Kokkalines Rat hören sollte, und entschied sich dagegen. Wem würde es dadurch besser gehen – Phano oder ihr selbst, da sie ihr Gewissen erleichtert hatte? „Was würde es Phano nutzen?“, antwortete sie abwehrend.
„Der Nutzen liegt nicht in Gold und Ehre ...“, versuchte Kokkaline sie zu überzeugen, „ ... sondern im Frieden des Herzens.“
Neaira kämpfte gegen den schwach aufkeimenden Wunsch an, zu tun, was ihre Sklavin ihr geraten hatte, fühlte dann jedoch die alte Scham ihren
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