Der Gesang des Satyrn
sie abweisen.
Warum hätte er sie bei Nikarete verraten sollen? Er war ein zu seltener Gast in Nikaretes Haus, um sich ihr verpflichtet zu fühlen. Ja, es war unter diesen Umständen das Beste, ihn zu bitten. Neaira betrachtete das Band in ihrer Hand – das Rot war noch immer so leuchtend wie an dem Tag, als Phrynion es ihr gegeben hatte. Sie meinte nach so vielen Jahren sogar die Wärme seines Körpers an diesem Band zu spüren. Damals hatte sie sich vor ihm gefürchtet, da sie glaubte er sei ein Satyr. Neaira lächelte über ihre dummen Kindheitserinnerungen und versteckte das Schmuckband in den Falten ihres Chitons.
Phila war das Mädchen, das Nikarete Phrynion am heutigen Abend auf die Kline gegeben hatte. In Phrynion schien Phila endlich jemanden gefunden zu haben, der ihre Trunksucht zu schätzen wusste. Schon bei Beginn des Gelages war sie angetrunken, und Phrynion ermutigte sie noch mehr zu trinken, beinahe so als schien es ihn zu interessieren, wie lange es wohl dauern würde, bis sie genug hätte. Spätestens beim Kottabos, dem Trinkspiel, bei dem Phrynion und Phila sich darin zu übertreffen versuchten kleine Wasserschalen in einem Becken zu versenken indem sie Wein hineinspuckten, war Phila so betrunken, dass sie kaum noch etwas von dem mitbekam, was um sie herum geschah; und Phrynion gab ihr noch mehr Wein! Als sie von der Kline aufstehen wollte, um sich im Hof zu erleichtern, stolperte Phila über ihren Chiton und fiel der Länge nach hin. Einige der Mädchen lachten und verspotteten sie, während Phila sich bemühte auf die Beine zu kommen und unverständliches Zeug lallte. Nikarete winkte mit zornig zusammengekniffenen Lippen zwei jungen Sklaven, damit sie Phila fortbrachten. Das Mädchen würde ihr heute kein gutes Geschäft mehr einbringen.
Doch Phrynion schien darüber nicht verärgert und winkte Phila, die schlaff in den Armen der Sklaven hing, zum Abschied. Neaira überlegte, ob es wirklich ein guter Einfall gewesen war, Phrynion um Hilfe zu bitten. Ihr tat Phila
leid, deren sanftes Wesen Nikaretes Boshaftigkeit nichts entgegenzusetzen hatte. Dann zwang das Schicksal sie jedoch zu einer schnellen Entscheidung. Hipparchos, dem sie an diesem Abend erneut Gesellschaft leistete, stand von der Kline auf und fasste sie ans Kinn. Seine weinschwangeren Augen stierten begierig auf ihre Brüste.
Auch er hatte schon mehr als genug getrunken. „Ich werde pinkeln gehen, sonst kann ich dich heute nicht mehr glücklich machen.“
Neaira lachte scheinbar entzückt und hoffte inständig, dass er von einer Schlange gebissen wurde – direkt in sein Glied! Allein damit hätte er sie glücklich machen können.
Nichts verriet ihre Gedanken, als Hipparchos mit unsicheren Schritten aus dem Andron torkelte.
Als er fort war, stand Neaira mit klopfendem Herzen auf und ging wie zufällig an Phrynions Kline vorbei. Seine Hand ruhte auf der Kline, doch er sah sie nicht einmal an, als das Band hineinfiel. Neaira bückte sich, entschuldigte sich lachend für ihre Tollpatschigkeit, und sprach ihn an, als sie nahe bei ihm war. „Herr, ich muss mit dir sprechen.
Es ist sehr wichtig ... bitte komm morgen wieder und hole mich auf deine Kline.“ Phrynion sah das Band an, ohne den Kopf zu heben. Nichts verriet, ob er sich an das Haarband erinnerte oder an das Kind, dem er es einst geschenkt hatte. Es bedeutet ihm nichts ... er erkennt es gar nicht , jammerte ihr Verstand. Doch dann sah er sie an, und seine Blicke trafen Neaira wie das verbrennende Feuer einer längst unter Asche begrabenen Erinnerung. Er war nicht betrunken, sein Verstand war vollkommen klar. Als sie zurück zu ihrer Kline ging, wusste sie ebenso wenig über ihn wie zuvor.
Neaira verbrachte eine unruhige Nacht und einen nicht enden wollenden Tag. Die Sonne wollte nicht wandern, obwohl Neaira die Schatten genau beobachtete, welche durch den Spalt über ihrer Tür fielen. Phrynion würde sie nicht zu sich rufen, Metaneira hatte recht! Er war zu schön, als dass er sich Gedanken über jemand anderen als sich selbst machen konnte. Wie hatte sie glauben können, dass er ihre Worte ernst nehmen würde? Am Abend schmückte sie sich wie immer, und als Idras kam um sie zu holen hatte Neaira all ihre Hoffnungen begraben.
„Du wirst heute Abend dem Herrn Phrynion Gesellschaft leisten.“
Die Worte der Schwarzen hallten in ihren Ohren.
Neaira schöpfte erneut Hoffnung.
Das Andron war von lärmenden Gästen in Besitz genommen worden. Phrynion war unter ihnen,
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