Der Gesang des Satyrn
bin Armut nicht gewöhnt!“
„Auch ich habe Abneigung gegen die Sklaven auf dem Feld empfunden. Ich habe den Göttern dafür gedankt, dass ich nicht zu ihnen gehöre“, antwortete Kokkaline leise.
Dann trocknete sie Neairas Tränen.
Wenn ich meinem eitlen und verwöhnten Herzen nur befehlen könnte ihn aufzugeben und mich endlich zu bescheiden , dachte Neaira kummervoll. Aber sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin, und nun kann ich nicht damit aufhören so zu sein, so gerne ich es auch täte.
Phrynion kam in dieser Nacht nicht zu ihr, und am nächsten Tag verließ er früh das Haus. Neaira verbrachte ein paar lustlose Stunden mit Kokkaline in Athen. Sie hatte Angst gehabt, dass Phrynion sie fortschicken könnte. Jetzt hatte sie Angst, dass er sie nicht mehr aus dem Haus ließ.
Der Zauber der ersten Tage war vergangen, und ihre bedrückte Stimmung schlug sich auch auf Kokkaline nieder. Sie sprachen wenig, während sie über die Agora schlenderten. Neaira meinte, dass selbst die bunten Stoffe der Händler ihre Farben verloren hatten. Auf ihrem Gemüt lag ein dunkler Schatten. War es richtig bei Phrynion zu bleiben oder sollte sie gehen? Aber wohin? Phrynion hatte ihre Freilassungsurkunde, sie besaß nichts außer dem Kleid, das sie am Leib trug. Sie war auf Phrynions Wohlwollen angewiesen, und er wusste das ebenso wie sie. Nachdem sie den ganzen Tag gegrübelt hatte, beschloss Neaira trotz allem Übel für diese Liebe zu kämpfen, die so hoffnungsvoll begonnen hatte. Irgendetwas Gutes musste doch auch in einem Mann wie Phrynion sein.
Phrynion kam auch an diesem Abend nicht zu ihr.
Neaira konnte in ihren Räumen hören, wie er die Sklaven mit harscher Stimme anfuhr und sich immer neue Amphoren mit Wein bringen ließ. Jetzt, da er sich offenbart hatte, bestand kein Grund mehr für ihn sich zu mäßigen. Er war der Satyr ihrer Kindheit, ein Diener des Dionysos’. Neaira fürchtete ihn ebenso, wie sie ihn vermisste – das war die schreckliche Wahrheit.
Als er am dritten Abend zu ihr kam, warf Neaira sich in Phrynions Arme. Er drückte sie so fest an sich, dass sie meinte zu ersticken und zog sie dann hungrig auf die Schlafkline.
„Lass es uns vergessen, denn die Vergangenheit ist nicht wichtig“, flüsterte er in ihr Ohr. Neaira nickte, obwohl sie wusste, dass sie nicht vergessen konnte. Ihr Streit hatte die Leidenschaft zwischen ihnen nicht zerstören können, aber Neaira spürte, dass sie sich nicht mehr so vorbehaltlos hingab und das Vertrauen fehlte, welches sie Phrynion entgegengebracht hatte. Auch er schien es zu bemerken, doch er sagte nichts; allein seine düsteren Blicke verrieten ihn.
Phrynion wurde misstrauisch, und seine Eifersucht nahm ständig zu. Er betrachtete Neaira mit seltsamem Blick, wenn sie mit Kokkaline von ihren Gängen durch Athen zurückkehrte und zog sich immer öfter zurück, nur um ohne Vorwarnung bei ihr zu erscheinen und sie wie ein Raubtier zu lieben.
Eines Abends verließ Phrynion ohne sie das Haus. Er hatte sich herausgeputzt und sah erschreckend gut aus, als er Neaira an sich zog. „Ich gehe aus, aber du bleibst hier.
Ich muss dir erst wieder vertrauen können.“
Neaira nahm seine Anweisungen hin – wohin hätte sie auch ohne ihn gehen sollen? Auf ein Fest, ein Symposion oder ins Theater? Sie kannte niemanden in Athen, nur Phrynion, und die Männer ihrer Vergangenheit hätte sie gar nicht treffen wollen.
Phrynion kehrte erst in den frühen Morgenstunden zurück – vollkommen betrunken, sodass seine Sklaven ihn stützen mussten, als er durch die Tür gestolpert kam. So hatte Neaira ihn noch nie gesehen. Ihr wurde klar, dass er unter ihrem Vertrauensverlust ebenso litt wie sie selbst.
„Was für eine zerstörerische Liebe uns doch aneinander fesselt“, sagte sie leise zu Kokkaline, als sie auf ihrer Schlafkline lag.
Am nächsten Abend schickte Neaira heimlich Kokkaline hinter Phrynion her, um zu erfahren, was er tat.
Sie meinte es längst zu wissen und war nicht überrascht als Kokkaline ihren Verdacht bestätigte. „Er besucht Hurenhäuser, Herrin ... und noch nicht einmal die Guten!
Es zieht ihn in solche Häuser, in denen die Mädchen auch jene Wünsche erfüllen, die eine Hetäre niemals zulassen würde.“
Neaira hob die Hand, um Kokkaline Einhalt zu gebieten. Mehr wollte sie nicht hören. Sie dachte an Phila, und wie Phrynion sie einst ermuntert hatte weiterzutrinken, bis sie die Besinnung verlor. Ja, er war schon immer so gewesen, auch wenn er es
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