Der Gesang des Satyrn
wenigsten der Männer hatten ein solches Fest erlebt, und diejenigen, welche es erlebt hatten, hätten es freiwillig kaum zugegeben. Es war verpönt, sich derart gehen zu lassen. Phrynion, gewiss – jeder kannte sein ausschweifendes Leben – doch in diesem Augenblick starrten alle gespannt auf Neaira.
„Immerhin ... “, hörte sie Phrynion hinter sich flüstern, „ ... gehört ein Teil von dir ja mir. Ich habe die Hälfte deiner Freiheit bezahlt. Also wähle ich den Teil für mich, den ich benötige, um meine Wette zu gewinnen.“
Neaira überlegte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Als sie eine Sklavin in Nikaretes Haus gewesen war, hatte man Solches nicht von ihr verlangt. Sie alle starrten sie an und wagten kaum, die Trinkschalen an die Lippen zu führen. Wieder hörte sie Phrynion hinter sich flüstern. „Wenn du es nicht freiwillig tust, werde ich dich zwingen. Vergiss nicht, dass ich die Urkunde deiner Freiheit besitze. Soll ich sie denn wegen dieser Sache verbrennen, Neaira? Möchtest du wieder eine Sklavin sein und jedem deinen Körper anbieten?“
War das der Mann, in dessen Armen sie gelegen hatte?
Neaira wurde sich der Unmöglichkeit einer Verweigerung bewusst. Er konnte sie zwingen, und er würde es tun! Sie dachte an die Worte der Harpyie, mit denen sie Neaira vor so vielen Jahren auf ihr Schicksal vorbereitet hatte. Zorn und Hass würden ihren Leib und ihr Herz gesund halten.
Voller Trotz erhob sie ihre Trinkschale. „Ihr habt richtig gehört, denn ich bin schamlos.“ Dann stand sie auf und zog mit einem Ruck ihren Chiton vom Körper. Phrynion lachte, zog sie zurück auf die Kline und drapierte sie auf die Knie. „Ich habe es euch doch gesagt“, rief er lachend.
Neaira tat alles Schamlose, was es zu tun gab, unter den Augen und den Rufen aller. Sie zeigte sich lachend und seufzend, schreiend und voller Lüsternheit, als Phrynion sie über die Kline warf und Chabrias zurief, er würde sein Pferd antreiben wie Chabrias es mit den seinen beim Rennen getan hatte. Lachend schlug er ihr mit der Hand auf das Hinterteil und nannte sie sein gehorsames Pferdchen. Als er fertig war, schenkte Chabrias ihm seinen Efeukranz. „Du hast ihn dir verdient, Phrynion.“
Neaira fühlte, wie ihr Herz starb, als sie sich ankleidete - ohne Hast, als würde ihr das Geschehene nichts ausmachen. Unter ihrem bleich geschminkten Gesicht glühte ihre Haut rot vor Scham wie ein Granatapfel. Am liebsten hätte sie auf Phrynions Hand gespuckt, als er sie neben sich auf die Kline zog. Doch Neaira hielt ihn an zu trinken und ließ die Sklaven seine Weinschale füllen, während sein ausgelassenes Lachen wie Gift in ihr Herz träufelte. Ich werde dir deinen Sieg zunichtemachen, Phrynion , dachte sie, als sie ihn so ausgelassen mit seinem Efeukranz sah. Er war nicht der Einzige, der gelernt hatte, sich Täuschung und List zunutze zu machen. Geduldig wartete Neaira, bis Phrynion so betrunken war, dass er neben ihr einschlief. Dann stand sie auf und ging zu Chabrias, um sich neben ihn auf die Kline zu legen. „Was wäre mein Ruf wert, wenn ich nicht einmal meinen Gönner überzeugen könnte?“, fragte sie ihn mit einem Schmunzeln. „Aber ich bin Neaira, die Tochter der Aphrodite. Du schmeichelst meinem Ruhm, Chabrias, also wirst du ebenfalls bekommen, was ich Phrynion geschenkt habe.“
Auffordernd hob sie die Trinkschale und wandte sich den anderen Gästen zu: „Und danach soll mich jeder von euch haben, und ich will auch die hübschen Knaben nicht vergessen, die meine Weinschale füllen.“
Chabrias starrte sie ungläubig an, dann verfiel er in lautes Lachen. „Bei Zeus, Neaira, du machst deinem Namen alle Ehre! Und ich dachte schon, die begehrteste aller Hetären würde Phrynion aus der Hand fressen wie ein Hund!“
„Ich verschenke niemals mein Herz an einen Mann!
Sagt Phrynion das, wenn er von seinem Weinrausch erwacht. Sagt ihm, dass Neaira ihn getäuscht hat.“
Phrynion schlug sie nicht, als er davon erfuhr, und er verbrannte auch ihre Freilassungsurkunde nicht. Neaira hatte damit gerechnet, doch er verkroch sich eine ganze Woche in seinen Räumen, während sie selbst Trost bei Kokkaline suchte.
„Was hätte ich denn tun sollen? Eine wie ich, die in den Augen dieser Männer keinerlei Ehre besitzt noch einfordern darf? Also habe ich ihnen gezeigt, dass mein Herz nicht versklavt werden kann. Wenigstens diese Achtung sollten sie vor mir haben.“
Als Phrynion nach ein paar Tagen zu ihr kam und
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