Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
Vom Netzwerk:
Roquemaure aus dem südlichen Frankreich hatte sie gemalt, auf ihnen die Freuden und die Leiden der heiligen Muttergottes dargestellt, der das Kloster geweiht war. Nur ein einziges Bild zeigte Maria weinend, als sie ihren von den Römern gekreuzigten Sohn auf den Knien hielt. Alle anderen Bilder strömten reine Freude und Glauben an die Ewigkeit Gottes aus.
    Auch ich glaube an die Ewigkeit Gottes, dachte Maria Christina. Aber sie betete nicht. Sie war in die Kirche gekommen, um Brenski Ruhe zu gönnen und um selbst nachzudenken.
    Sie glaubte an Gott, und nie war dieser Glaube erschüttert worden. Sie liebte Gott, aber sie liebte auch ihre Eltern und ihre Geschwister, sie hatte Chico, ihren Hund, geliebt und Diana, ihre Stute. Sie hatte ihre Freundinnen geliebt und ihre strengen Tanten. Sie hatte den jungen Amerikaner in Paris geliebt, aber in drei Jahren war sein Bild in ihren Gedanken verblaßt, und wenn sie versuchte, sich ihn vorzustellen, dann sah sie vielleicht seinen Mund oder die Haarlinie an der Schläfe oder das Kinn mit der Narbe von einem Autounfall oder seine Hände mit den geschmeidigen Fingern.
    Im Kloster hatte man sie gelehrt, daß sie nur Gott zu lieben und sich ihm zu unterwerfen habe, in stetiger Demut und ständigem Gehorsam.
    Aber wie konnte sie die Liebe zu den Menschen aus ihrem Herzen reißen, wie Unkraut aus einem Rosenbeet?
    Würde sie überhaupt die Profeß annehmen dürfen? Würde sie dann nicht für ewig mit der Lüge leben müssen, daß Gott allein ihr wichtiger als alle Menschen sei?
    »Da stehst du und faltest nicht die Hände und kniest nicht nieder, wie es sich gehört, und die Gebete des Tages hast du versäumt, und du läßt den Körper eines Mannes deine Zelle, ja sogar dein Lager entweihen!«
    Wie es ihre Art war, hatte die Mutter Oberin lautlos die Kirche betreten, stand so dicht hinter ihr, daß Maria Christina die dumpfe Ausdünstung des schweren, dunklen Habits riechen konnte.
    »Ich wollte nur nachdenken«, sagte sie.
    »Deine Gedanken sind Sünde.«
    »Ich wollte die Wahrheit finden.«
    »Was bleibt an Wahrheit, wenn du dich von Gott und der Heiligen Mutter Maria abwendest, wenn du an einem einzigen Tag gleich ein halbes Dutzend Male die Gebote unserer Heiligen Mutter Teresa gebrochen hast?«
    »Ich habe nur versucht, den Verwundeten zu helfen, und ich gönne einem Menschen eine Stunde Schlaf, die er braucht.«
    »Das ist nicht deine Aufgabe, und du weißt es.«
    »Jesus hat doch gesagt, liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
    »Das gilt für die Laien, das gilt für unsere Brüder und Schwestern außerhalb unserer Mauern. Es gilt nicht für uns. Wir lieben die Menschen nur, indem wir unsere ganze Liebe Gott schenken, unser Leben Ihm weihen, alle unsere Gefühle und Gedanken nur auf Ihn ausrichten.«
    »Das kann ich nicht.« Zum erstenmal kam es laut über Maria Christinas Lippen. Sie war zuerst selbst erschrocken, aber dann spürte sie das Gefühl einer tiefen Zufriedenheit.
    Sie hatte endlich die Wahrheit gesagt.
    Sie hatte endlich die Wahrheit gefunden.
    »Knie nieder«, sagte die Madre Superior, »breite die Arme aus, wie Gottes Sohn sie ausbreiten mußte, als man ihn ans Kreuz schlug. So sollst du verharren für den Rest der Nacht. Und du wirst Gott, unseren einzigen Herrn und Gebieter, bitten, dich zu erleuchten, damit seine Strafe dich nicht treffe, damit du seinem Zorn entgehest, denn Ihm allein ist es gegeben, dich zu erretten oder zu zertreten wie einen Wurm. Knie nieder.«
    Und Schwester Teresa, keinen Blick von dem hochmütigen Gesicht lassend, gehorchte noch einmal. Nicht, um Gott um Erleuchtung zu bitten, sondern um ihm zu danken, daß Er sie die Wahrheit hatte erkennen lassen.

8.
    Ein Wind hatte sich erhoben und die Hitze des Tages vertrieben. Die Nacht war aus dem Himmel gefallen wie ein schwarzer Schleier, mit dem Allah das Gesicht der Sterbenden verhüllt.
    Die Marokkaner vom 2. Kolonialregiment hockten in den Gräben der Straße, die nach Guevara und auf der anderen Seite zum Kloster Santa Maria de la Sierra führte. Sie hatten die Gesichter hinter ihren Burnustüchern verborgen, so wie sie es im heimatlichen Atlasgebirge taten, wenn der Wind aufkam und den Sand aufwirbelte, zum Sturm wurde, zum gefürchteten Samum. Sie verbargen ihre Gesichter aber nicht wegen des Windes, sondern wegen der Angst. Die weißen Offiziere, gehaßt und gefürchtet, durften nicht sehen, daß ihnen bange war vor der Nacht, in der sie angreifen sollten nach den langen,

Weitere Kostenlose Bücher