Der Gesang von Liebe und Hass
kleine Schönheit werden wirst, was ich eigentlich nicht sagen dürfte, um dich nicht zur Eitelkeit zu verführen. Aber du sollst dir dessen bewußt sein, denn die Frauen in unserer Familie reifen schnell und heiraten früh.‹
›Wie früh?‹ fragte Maria Christina neugierig.
›Nun, es ist noch gar nicht so lange her, da heiratete eine Großtante von dir mit vierzehn Jahren.‹
›Meinst du, ich muß auch so früh heiraten und einen Mann haben und Kinder kriegen und ein großes Haus? Das will ich aber nicht.‹
Die schmalen, ungefärbten Lippen in dem weißen Gesicht ihrer Tante verzogen sich, daß man es fast für ein Lächeln halten konnte.
›Nein, nein, das wird wohl keiner von dir verlangen. Zuerst wirst du deine Schulstudien beenden und dann in die Gesellschaft eingeführt werden, und das dauert noch seine Zeit. Aber du bist heute noch ein Kind, ein Mädchen, und es kann geschehen, daß schon in wenigen Tagen oder Wochen aus dir eine Frau wird. Du verstehst?‹
Maria Christina schüttelte den Kopf. ›Nein. Warum so plötzlich?‹
›Nun, wie soll ich es dir erklären? Du spürst doch, daß sich dein Körper verändert?‹
Maria Christina senkte die Lider. Erst gestern nach dem Bad hatte sie sich im Ankleidespiegel ihrer Mutter betrachtet und kleine, rote Haare entdeckt, wo vorher keine waren, und sich im Profil geprüft und gesehen, daß ihre Brustwarzen stärker vorstanden.
›Ich merke schon, du hast dich selbst betrachtet?‹
›Nein …‹
›Mein liebes Kind, es nützt nichts zu lügen, und eine Sünde ist es obendrein. Jedes Mädchen beginnt damit in deinem Alter, und du bist keine Ausnahme.‹
›Also gut‹, sagte Maria Christina, ›ich habe es getan.‹
›Wo?‹
›In Mutters Ankleidezimmer. Meine Kleider spannten sich in letzter Zeit hier oben so‹, sie berührte flüchtig ihre Brust, ›und ich dachte, ich wollte Mutter bitten, daß sie mir andere schneidern läßt.‹
›Das ist schon vorgesehen. In den nächsten Tagen wird die Señora Vaduza ins Haus kommen und dir Maß nehmen. Aber es sind nicht nur äußerliche Veränderungen, die an dir vorgehen, sondern auch innere.‹
›Was denn für welche?‹
›Nun, du wirst das sofort merken, und du wirst sogleich zu einer von uns Tanten kommen, falls deine Mutter nicht da sein sollte. Es ist schon alles vorbereitet.‹
›Was ist vorbereitet?‹
›Wenn es geschieht, wirst du auch das erfahren. Aber komme nur zu deiner Mutter oder zu uns Tanten. Lasse die Männer nichts davon erfahren. Weder deinen Vater noch deine Brüder.‹
›Warum nicht, Tante Augusta?‹
›Weil es etwas ist, das nur uns Frauen angeht. Und nun geh in dein Zimmer und leg dich ein Stündchen hin und hab keine Angst. In der Stunde, in der du uns brauchst, werden wir bei dir sein.‹
Maria Christina küßte ihrer Tante die Hand, wie sie es von klein auf gewohnt war, erhielt selbst einen Kuß auf die Stirn.
In ihrem Zimmer legte Maria Christina sich aufs Bett und dachte darüber nach, was Augusta gemeint haben könnte.
In den Büchern, die sie bisher gelesen hatte, war man entweder ein Mädchen oder eine Frau. Wie man von dem ersteren zur zweiteren wurde, war nie erklärt.
Aber es mußte schon etwas Wichtiges sein, sonst hätte Augusta nicht so ernst und gleichzeitig ein bißchen verlegen ausgeschaut, so, als wolle sie mehr sagen, besäße jedoch die Worte nicht dazu. Komische Geschichte.
Vielleicht bekam man große Schmerzen, wenn man zur Frau wurde, schließlich litt eine Frau, die ein Kind gebar, ja auch große Schmerzen.
Ich möchte lieber ein Mädchen bleiben, dachte Maria Christina und schloß die Augen.
Nach einer Weile wurde sie sich der halbdunklen Schwüle ihres Zimmers bewußt. Sie zog sich aus, nahm den kleinen Handspiegel von ihrem Frisiertisch und hielt ihn überall hin, wo die äußeren Veränderungen zu sehen waren; sie fand sie nicht häßlich, nur komisch.
Aber Maria Christina vergaß das Ganze bis auf ein halbes Jahr später.
Ihr Vater hatte ihr eine junge Stute geschenkt, und sie ritt sie ein. Maria Christina war eine sichere Reiterin, und daher war ihr erlaubt, auch über die Grenzen der Finca hinweg in die nahen Korkeichenwälder zu galoppieren.
Sie liebte die Kühle, die die Kronen der Bäume spendeten, und sie liebte die Wärme der Stämme, wenn sie absaß und sich, den Rücken dagegen gelehnt, ausruhte.
Als sie an diesem Tag die Grenze der Finca verließ und der Pförtner tief die Kappe zog, durchschnitt jäh ein scharfer
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