Der Gesang von Liebe und Hass
wurden nicht angehalten.« Er strich sich mit der Hand über sein Kinn. Er schien immer noch betroffen, daß dort kein Bart mehr war. »Das heißt, angehalten haben sie uns schon, aber sie haben unsere Papiere für echt gehalten, denn sonst hätten sie uns ja nicht durchgelassen.«
»Die Papiere sind gut«, sagte Brenski. Er stand gegen den Stamm einer der beiden Fichten gelehnt, zwischen denen sie eine Zeltplane als Schutz schräg aufgespannt hatten. Für Maria Christina war ein Bett im Karren vorbereitet worden. Das Mulo fraß aus seinem Hafersack und schnaubte hin und wieder genießerisch.
»Wer hat die erste Wache?« fragte El Corazón.
»Du – ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte Brenski.
»Zu erledigen?« fragte El Corazón verwundert.
»In dem Ort, durch den wir zuletzt gekommen sind, liegt ein Zug von Marokkanern.«
»Sí, das weiß ich. Aber was hat das mit uns zu tun? Wir können froh sein, daß es sich offenbar um Verwundete handelt, die man dort untergebracht hat. Und wir können auch froh sein, daß sie nachts nicht hier herumschnüffeln.«
»Verwundete sind hilflos«, sagte Brenski.
»Sí, das sind sie im allgemeinen.«
»Meistens sind auch Frauen wie Maria Christina oder Agostina oder wie Mama Elena hilflos.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß ich mir mit deiner Erlaubnis zwei Stunden frei nehme, um einen kleinen Posten auf der langen Rechnung mit den Nacionales zu begleichen.«
»Du bist verrückt«, sagte El Corazón mit Bestimmtheit.
Brenski schüttelte den Kopf. »Schau dir Maria Christina an. Sie spricht nicht mit uns, sie antwortet nicht auf unsere Fragen, sie sieht mich nicht einmal an. Und warum?«
»Ja, ja, ich weiß warum. Wenn du im Dorf irgend etwas anstellst, wird man die ganze Gegend absuchen, und man wird uns erwischen.«
»Ich werde es schon so machen, daß man mich nicht erwischen kann. Und euch auch nicht.«
»Ich verbiete dir, zu gehen.«
»Du kannst mir nichts verbieten!«
El Corazón sprang auf. Die beiden Männer standen sich gegenüber, als wollten sie sich gleich aufeinander stürzen.
»Laß ihn gehen«, sagte Maria Christina plötzlich. Ihre Stimme klang gleichgültig, aber dann scharf, »laß ihn gehen, wenn er seine Rache haben will.«
»Ja, die will ich haben«, sagte Brenski.
»Ich auch.« Maria Christina stand auf und ging zum Karren. »Buenas noches.«
»Hau schon ab, du Idiot«, sagte El Corazón. »Aber wenn du die Nacionales auf unsere Spur bringst, mache ich selbst dich einen Kopf kleiner.«
»Hasta la vista«, sagte Brenski, und er verschwand in der Dunkelheit, ein gleitender Schemen. Und so fühlte er sich auch – ein Schatten seiner selbst.
Der Ort hieß Fuente de la Trenta, besaß eine einzige Straße, die sich an die Talsohle hielt, eine Kirche mit einem schmiedeeisernen Glockenstuhl, eine Schule am Ende des Ortes und eine Cantina mit einem Tanzsaal, die von den Nacionales als Verbandsplatz beschlagnahmt worden war. Die Front war nicht weit, und Brenski konnte, während er durch den Wald zur Straße hinuntereilte, das Wummern der Artillerie hören; für den Laien klang es fern, aber der Westwind, der durch das Tal strich, dämpfte nur das Geräusch der Abschüsse und Einschläge.
Als sie am Nachmittag durch den Ort gekommen waren, hatten sie kaum jemanden gesehen: ein paar alte Frauen in ihren schwarzen Kleidern mit den schwarzen Kopftüchern, zwei, drei alte Bauern mit Maultierkarren, die von irgendwelchen kargen Äckern kamen. Und natürlich die Nacionales die auf der Veranda des Tanzsaales herumlungerten, Verbände um Kopf, Arm oder Bein, humpelnd, mit verbitterten oder fröhlichen Gesichtern, wenn es sich bei der Verwundung um einen Heimatschuß handelte.
Zwei Posten hatten sie angehalten, ihre Papiere geprüft, Maria Christina, die ihr Gesicht mit Staub beschmiert hatte und aussah wie eine alternde Magd, kaum eines Blickes gewürdigt. Redselig waren die Posten, denn wer kam schon durch Fuente de la Trenta? Wohin wollten sie? Nach Granada? Das war ein langer Weg! Und mit blitzenden Augen hatte der Ältere der beiden gesagt: ›Ich bin in Granada geboren, Señor! In meiner Familie ist man stolz darauf, daß wir das Blut der Kalifen in unseren Adern haben!‹
›Herzlichen Glückwunsch‹, hatte Brenski geantwortet, und sie waren weitergefahren.
Nun stand er allein an der Straße, die durch den hellen Staub deutlich sichtbar war, ein gerades Band zwischen den Hügeln.
Er marschierte forsch dahin. Er dachte an die drei
Weitere Kostenlose Bücher