Der Geschichtenverkäufer
schreiben, nur um dann aufs Siegerpodest zu steigen, mich zu verbeugen und den Applaus einzuheimsen. Außerdem schreibt inzwischen alle Welt Romane. Romane werden von Einfaltspinseln geschrieben; eines Tages wird es so üblich sein, Romane zu schreiben, wie es früher üblich war, sie zu lesen.
Als ich mit meiner Mutter zusammen Rampenlicht sah, ging mir auf, wie kurz das Leben ist. Ich sah ein, daß ich bald sterben und alles verlassen würde. Anders als die Eitlen habe ich immer schon über die besondere Fähigkeit verfügt, diesen Gedanken bis zum Ende zu verfolgen. Es fiel mir nie schwer, mir vollbesetzte Kinos und Theater lange nach meinem Tod vorstellen. Das schaffen nicht alle Menschen. Viele sind von Sinneseindrücken so berauscht, daß sie nicht wirklich erfassen können, daß es eine Welt gibt. Deshalb können sie auch das Gegenteil nicht begreifen; sie verstehen nicht, daß diese Welt eines Tages ein Ende haben wird. Dabei sind wir nur ein paar Herzschläge vom dauernden Abschied von der Menschheit entfernt.
Ich habe nie versucht, mich besser zu machen, als ich bin, indem ich mich vor anderen produziere oder mich vor dem Spiegel auftakele. Ich statte dieser Welt nur einen kurzen Besuch ab. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund finde ich es erfrischend, eitlen Menschen zu begegnen.
Es kann das Gemüt auf eine ganz eigene Weise läutern, mit kleinen Kindern zu sprechen oder eine Komödie von Holberg oder Moliere zu sehen. In derselben Weise war es mir immer ein Genuß, eitlen Menschen über den Weg zu laufen; sie sind ebenso arglos wie kleine Kinder, und bisweilen habe ich sie um diese Arglosigkeit sogar beneidet. Sie leben, als hätte das einen Sinn, sie leben, als stünde etwas auf dem Spiel. Aber wir sind Staub. Deshalb gibt es auch keinen Grund, sich wichtig zu machen. Wie Mephistopheles zu Faust sagt:
Was soll uns denn das ewge Schaffen! Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!
Mutter starb 1970, kurz vor Weihnachten, ich besuchte die siebte Klasse des Gymnasiums. Die Krankheit setzte ganz plötzlich ein, und es dauerte nicht lange, erst einen Monat zu Hause bei ärztlicher Behandlung, dann einige kurze Wochen im Krankenhaus.
Meine Eltern söhnten sich in den Wochen vor Mutters Tod miteinander aus, es geschah noch, ehe sie ins Krankenhaus mußte. Vater erzählte mir, er habe ihr Leben ruiniert, Mutter erzählte mir genau das Gegenteil. So machten sie weiter, bis zum letzten Augenblick hagelte es gegenseitige Vorwürfe und Beschuldigungen. Der Unterschied war nur, daß sie nicht mehr einander anklagten, sondern jeder sich selbst. Die Summe der Vorwürfe und Beschuldigungen blieb dabei konstant. Für mich wiederum spielte es keine Rolle, ob meine Eltern sich gegenseitig quälten oder sich selbst.
Die Beerdigung war dann wirklich schön. Vater hielt eine lange Rede darüber, was Mutter für ein wunderbarer Mensch gewesen sei. Er kam auch auf den, wie er sagte, »großen Sündenfall« im Leben der beiden zu sprechen. Während der letzten Wochen hätten sie aber zueinander zurückgefunden und einander ihre Unzulänglichkeit verziehen. So hätten sie das Versprechen, das sie sich einst vor dem Traualtar gegeben hätten, doch noch erfüllt. Sie hätten ihre guten und ihre bösen Tage gehabt. Am Ende aber hätten sie geschafft, einander zu lieben, bis daß der Tod sie schied.
In diesen Worten meines Vater lag keinerlei Falsch, in den Wochen vor ihrem Tod hatte er Mutter wirklich geliebt. Ich fand, das sei ihm reichlich spät eingefallen; was mich betraf, hätte er auch in den letzten Wochen fortbleiben können. Vielleicht liebte er sie in den ersten Wochen nach ihrem Tod sogar noch viel mehr. Jedenfalls sagte er das alles nicht nur, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Auch ich sollte an Mutters Sarg ein paar Worte sagen, aber ich konnte es nicht. Ich war außer mir vor Kummer. Ich glaube, meine Trauer war tiefer als die meines Vaters, deshalb konnte ich nichts sagen. Es war auch nicht der richtige Moment für einen Scherz. Wenn Mutters Tod mir nicht so unendlich viel ausgemacht hätte, wäre ich sicher zu einer ergreifenden Rede imstande gewesen. Ich hatte nicht gewußt, daß er mir dermaßen zusetzen würde. Ich erhob mich nur von der Kirchenbank und trat mit einem Strauß Vergißmeinnicht neben den Sarg. Ich nickte Vater und dem Pastor zu, und Vater und der Pastor nickten zurück. Als ich zur Bank zurückkehrte, um mich zu setzen, sah ich, daß der kleine Mann mit dem grünen Filzhut im Mittelgang hin und
Weitere Kostenlose Bücher