Der Geschichtenverkäufer
bestimmt auch nicht besonders detailliert träumen. Der Nachbar meinte, Waldemar könne deutlich mitteilen, ob er Hunger habe oder aufs Klo müsse, und es sei auch nicht schwer zu verstehen, wenn er traurig sei oder ängstlich. Aber Märchen kann er nicht erzählen, sagte ich, dazu hat er nicht genug Phantasie im Kopf, und darum kann er auch nicht weinen. Da stimmte der Nachbar mir zu. Er erzählte, daß er regelmäßig mit Waldemar Spazierengehen müsse, damit der nicht auf den Wohnzimmerboden pisse, aber er brauche tatsächlich nicht zu befürchten, Waldemar könne plötzlich mit den Sofakissen Puppentheater aufführen oder Donald-Bilder an die Wände malen, zum Glück. Hunde sind nicht so redselig wie wir, sagte er, das ist vielleicht das, was du meinst. Genau daran hatte ich gedacht. Ich sagte: Vielleicht sind sie aber trotzdem genauso glücklich.
Dann schwiegen wir, denn nun war Einar Gerhardsen an der Reihe. Der Nachbar und ich erlebten gemeinsam eine nationale Feierstunde. Waldemar schlich in die Küche und beschäftigte sich mit anderen Dingen.
Bald wurde das neue Medium zu einer enormen Herausforderung für mich. Ich brauchte ein Jahr, um Mutter zum Kauf eines Fernsehers zu überreden, danach lief ich vor Programmideen geradezu über. Ich schickte keine davon ans Funkhaus, aber ich rief regelmäßig dort an, um ihnen meine Meinung zu sagen.
Ich erfand zum Beispiel eine Sendung, in der zehn Menschen in ein leeres Haus gesteckt wurden. Sie sollten von der Umwelt isoliert sein und erst wieder herausdürfen, wenn sie etwas ganz Neues erschaffen hatten, etwas, das für alle Menschen auf Erden von dauerhafter Bedeutung sein würde: eine neue und bessere Erklärung der Menschenrechte zum Beispiel oder das schönste Märchen der Welt oder das witzigste Theaterstück. Die Teilnehmer sollten viel Zeit haben, ich glaube, ich setzte hundert Tage dafür an. Das ist lang. Wenn man bedenkt, daß hundert Tage für zehn Menschen in Wirklichkeit tausend Tage sind, also fast drei Jahre. Wenn der Wille dazu vorhanden ist, können zehn Menschen in hundert Tagen sehr viel schaffen. Zuerst mußten die Teilnehmer das Zusammenarbeiten lernen, das war die Voraussetzung. Wann immer sie dann der Menschheit etwas Wichtiges zu verkünden hatten, konnten sie im Funkhaus anrufen, dann würden entweder Erik Bye oder Rolf Kirkvaag mit einer Fernsehkamera anrücken und sich erzählen lassen, was die Teilnehmer sich ausgedacht hatten. Damals wurden noch keine zwanzig oder dreißig Kameras für eine Unterhaltungssendung eingesetzt, so viele gab es im ganzen Funkhaus nicht. Das Öl in der Nordsee war noch nicht entdeckt. Wer vor einer Fernsehkamera sprach, sollte etwas auf dem Herzen haben, fand ich. Das hatten damals nicht alle, aber es galt wenigstens als Vorteil, wenn es so war. Auch damals gab es Dinge, bei denen Sinn und Verstand keine Rolle spielten, so fuhren die Abiturienten nach Kopenhagen aus dem einzigen Grund, sich tagelang zu betrinken; es wäre nur niemand auf die Idee gekommen, so etwas von Anfang bis Ende zu filmen. Es war eine andere Zeit, vielleicht auch eine andere Kultur, womöglich eine andere Zivilisation. Ich sage das nicht zu meiner Verteidigung, aber ich hatte nicht genug Phantasie, um mir die heutige Fernsehkultur vorzustellen, damals nicht. Bald hatte ich ein ganzes Heft voller guter Programmideen, aber daß man Einschaltrekorde aufstellen könnte, indem man eine viele hundert Stunden lange Fernsehserie über kichernde Mädchen und fummelnde Jungs erfindet, das hätte meine wildesten Phantasien übertroffen. Wir können nicht wissen, ob Cäsar oder Napoleon Phantasie genug gehabt hätten, sich Atomwaffen oder Splitterbomben vorzustellen. Außerdem spricht einiges dafür, ein paar Ideen für die Nachwelt aufzuheben. Man muß nicht alle guten Einfälle auf einmal verbrauchen.
Auch in meinen Jugendjahren war ich viel allein. Je älter ich wurde, um so mehr war ich allein; aber ich fand es wunderbar, ich versenkte mich einfach gern in meine Gedanken. Später konzentrierte ich mich mehr und mehr darauf, mir Handlungen für Bücher, Filme und Theaterstücke auszudenken.
Aus meinen Kindheits- und Jugendjahren hatte ich Notizen für viele hundert Geschichten mitgenommen. Ich besaß Entwürfe für Märchen, Romane und Erzählungen, für Theaterstücke und Filmdrehbücher. Ich machte nie den Versuch, einen davon wirklich auszuarbeiten; ich glaube nicht, daß ich je mit diesem Gedanken gespielt habe. Wie hätte ich mich bei
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