Der Geschichtenverkäufer
Gesellschaft - oder der einzelne Mensch - das moralische Recht besitze, ein LSD- Kind zu töten, sobald sich eine sichere Diagnose stellen ließ. Leider war es nicht möglich, LSD durch eine Fruchtwasseruntersuchung nachzuweisen. Das fehlende Seelenleben schlug sich nun einmal nicht in den Genen nieder.
Im Laufe der letzten Jahre hat man einige der ältesten LSD- Kinder zusammengebracht, weil die Forscher sehen wollten, wie sie aufeinander reagierten. Zu den ersten gehörten der Bolivianer Pablo und die Engländerin Linda. Kaum waren sie einander vorgestellt und von Fesseln und Riemen befreit, als sie auch schon aufeinander losgingen und sich so wild und brutal liebten, daß die folgenden Stunden das KAMASUTRA wie die reinste Sonntagsschule erscheinen ließen. Pablo und Linda hatten keine Seele, mit der sie sich einander hingeben konnten, aber sie waren Mann und Frau und an ihren geschlechtlichen Instinkten war nichts auszusetzen. Es fehlte ihnen an Schamgefühl und Hemmungen, denn ohne Seele gab es nichts, was ihr Begehren hemmen oder lenken oder gar in einen größeren Zusammenhang rücken konnte.
Die Begegnung zwischen Pablo und Linda führte zu Schwangerschaft und Geburt, und das Aufsehenerregende war, daß Linda ein ganz normales kleines Mädchen mit Seele auf die Welt brachte. Andererseits: Was sollte daran so bemerkenswert sein, daß eine freie Seele sich in einem Kind niederließ, das von zwei seelenlosen Eltern abstammte? War damit nicht zu rechnen gewesen? Das einzige, was es zum Entstehen eines neuen Menschen braucht, ist, daß sich eine der zwölf Milliarden Seelen, die es im Universum gibt, in einem Fötus niederläßt. Das kosmische Gleichgewicht war nur vorübergehend aus den Fugen geraten, als das Angebot an Seelen die große Nachfrage nicht mehr befriedigen konnte.
Die Tochter von Pablo und Linda wurde Cartesiana genannt, nach dem französischen Philosophen Rene Descartes, da sie ein für allemal der Welt bewiesen hatte, daß die Seele nichts Fleischliches ist. Die Seele kann nicht vererbt werden wie unsere körperlichen Eigenschaften. Wir erben die eine Hälfte unserer Genmasse von unserer Mutter und die andere vom Vater, doch der Erbstoff ist ganz und gar mit dem Menschen als biologischem Wesen verbunden, oder mit dem Menschen als Maschine. Wir erben nicht von unserer Mutter eine halbe Seele und eine andere halbe Seele von unserem Vater. Eine Seele kann nicht zweigeteilt werden, und zwei Seelen können sich nicht miteinander vereinigen. Die Seele ist eine unteilbare Einheit, eine Monade.
Nicht zum ersten Mal wurden Parallelen zwischen westlichen Philosophen wie Descartes und Leibniz und indischen Schulen wie der streng dualistischen Samkhiya-Philosophie gezogen. Wie Platon und eine Reihe indischer Denker bereits zweieinhalb Jahrtausende zuvor betont hatten, wird die Seele in einer endlosen Reihe von Menschenleibern inkarniert und reinkarniert. Wenn alle Seelen des Universums sich gleichzeitig in der fleischlichen Welt aufhalten, tritt ein Zustand des absoluten Inkarnationsstopps ein - bis wieder mehr Menschenleiber sterben, als gezeugt werden.
Cartesiana - die ein kleiner Sonnenstrahl war - wurde von den zuständigen Behörden betreut, da ihre biologischen Eltern sich nicht um sie kümmerten. Weder ihre Mutter noch ihr Vater interessierte sich für das Kind, sie blieben jedoch zusammen. Viele neigten zu der vorurteilsbeladenen Auffassung, daß es grotesk und unethisch gewesen wäre, wenn noch mehr LSD-Menschen Kinder in die Welt hätten setzen dürfen. Auf Drängen der Kirche wurden die meisten von ihnen deshalb sterilisiert.
Es gehört mit zu dieser Geschichte, daß die Menschen auf der Erde einander von nun an tieferen Respekt entgegenbrachten. Es fällt nicht so leicht, eine Seele auszuschimpfen oder zu verfluchen, die uns in hundert oder in hundert Millionen Jahren womöglich wiederbegegnen wird.
Die Weltbevölkerung ist seit dem letzten LSD-Ausbruch unter zwölf Milliarden Seelen geblieben, aber nicht allen war diese Entwicklung gleichermaßen willkommen. Einzelne haben vorgeschlagen, einige tausend LSD-Kinder in großen Lagern oder Körperplantagen zu internieren und als Organspender zu benutzen.
Andere empfehlen, seelenlose Aphroditen und Adonisse in staatlichen Bordellen zu halten, zur Freude aller, die in unfreiwilligem Zölibat leben müssen.
Doch der Anteil der Menschen, die meinen, wir sollten die Weltbevölkerung wieder auf über zwölf Milliarden steigern, beläuft sich
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