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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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einzustellen. Sie behaupteten, sich leer zu fühlen.
    Es machte mir keine Freude, andere von mir abhängig zu machen, aber davon lebte ich nun einmal. Ich lebte davon, daß die Fische bei mir anbissen. Ich verkaufte weder Hasch noch LSD, ich verkaufte nicht einmal billige Zigaretten oder geschmuggelten Schnaps. Ich verkaufte Phantasie, harmlose Phantasie. Doch sie war der Schlüssel zur urbanen Ehre, der Schlüssel zur komplexen Erscheinungsform postmoderner Identität.
    Wenn ich, auf einem Fest zum Beispiel, einem bedürftigen Klienten begegnete, kam es vor, daß er mich nervös in eine Ecke oder ins Treppenhaus zog, einige Male sogar auf die Toilette. Er schaute sich nach allen Seiten um und äußerte dann sehr leise sein Begehr: Hast du was, Petter? Oder: Hast du heute was? Oder sogar: Sag mal, was kann ich für einen Tausender bekommen?
    Ich hatte eine reiche Auswahl im Angebot, sowohl was Genres als auch was Preisklassen betraf. Eine kurze Idee oder ein Aperçu lagen natürlich in einer ganz anderen Preisklasse als beispielsweise eine komplette Synopsis für einen großen Roman, von einer sorgfältig ausgearbeiteten Filmsynopsis ganz zu schweigen. Ich verkaufte auch halbfertige Gedichte und Novellen im Viertel. Einmal schrieb ich eine Novelle, zerschnitt sie in drei Teile und verkaufte sie an drei Autoren. Ich wollte damit nicht mehr Geld aus dem Markt herauspressen, es machte mir nur Spaß.
    Nicht selten entwarf ich im Gedanken an einen bestimmten Kunden ein Sujet. Einen solchen maßgeschneiderten Plot verkaufte ich für einen dicken Batzen Geld an den jungen Mann, der mir einige Jahre zuvor im Club 7 begegnet war; mit Hilfe der Notizen, die ich ihm damals anvertraut hatte, hatte er schon einen gewissen Ruhm erlangt. Wie viele andere hatte er sich inzwischen von der Hippiebewegung und dem Interesse der Beatles an östlicher Mystik beeinflussen lassen, außerdem war er Anthroposoph. Es reizte mich, daß er sich außerdem als sehr belesen im philosophischen Materialismus von Demokrit, Epikur und Lukrez bis zu Hobbes, Lamettrie, Holbach und Büchner erwies. Er hatte mir anvertraut, daß er im Moment nichts habe, worüber er schreiben könne, er jedoch die Wartezeit nutze, um auf seiner Suche nach einer möglichen Brücke zwischen materialistischem und spirituellem Weltbild das Bhagavadgita zu studieren. Der Plot, den ich für ihn ausarbeitete, kreiste um genau solche Fragen, ich gab ihm den Arbeitstitel »Die Konstante der Seele«. Kurz zusammengefaßt ging es dabei um folgendes:
     
    D ie Spiritualisten behielten recht, die Materialisten aber auch. Wie auch alle Dualisten und Reinkarnationsgläubige Grund hatten, sich einen Schnaps zu gönnen.
    Als sich die Bevölkerungszahl der Erde bei an die zwölf Milliarden Seelen eingependelt hatte, wurde in einem kleinen bolivianischen Gebirgsdorf am Titicacasee ein ganz besonderes Kind geboren. Pablo, wie der Kleine hieß, war außergewöhnlich hübsch, wirkte sonst aber wie ein normaler kleiner Knabe. Er schrie wie fast alle Babys, verfügte über die üblichen Fähigkeiten und Instinkte und war in Sprachentwicklung und Motorik immer recht weit für sein Alter. Als er jedoch heran wuchs, ging seiner Umgebung auf, daß bei ihm keinerlei seelische Regungen zu beobachten waren. Er war Gegenstand mehrerer neurologischer Untersuchungen, und bei allen stellte sich heraus, daß weder physische Gehirnschäden noch irgendwelche Sinnesstörungen vorlagen, er lernte außerdem schneller als die meisten seiner Altersgenossen Lesen und Schreiben. Aber er hatte keine Seele. Pablo war eine leere Hülle, eine Schale ohne Frucht, eine Schmuckschatulle ohne Schmuckstück. Es wäre nicht richtig, von einem »unterentwickelten Gefühlsleben« zu sprechen - dieser Begriff hat ohnehin eine ideologische Schlagseite, insofern er davon ausgeht, daß ein Gefühlsleben »entwickelt« werden kann wie irgendwelche körperlichen Fähigkeiten. Pablos Problem war, daß er überhaupt kein Gefühlsleben hatte, weshalb er aufwuchs wie ein Menschentier ohne Gewissen und ohne einen Gedanken an andere. Er interessierte sich nicht einmal für sein eigenes Wohl und Wehe, er lebte von einem Augenblick zum anderen wie ein sorgfältig programmierter Roboter.
    Schon mit anderthalb Jahren mußte Pablo angebunden werden, zur Verzweiflung seiner Eltern. Der Dorfpfarrer bestand trotzdem darauf, ihn wie andere Kinder zur Schule gehen zu lassen. Mit sechs Jahren wurde er mit einem Lieferwagen zur Schule geschafft und im

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