Der Geschichtenverkäufer
Klassenzimmer mit Lederriemen an einen im Zementboden eingelassenen Tisch gebunden. Ihm machte das nichts aus, er war gar nicht in der Lage, Schamgefühle oder Selbstverachtung zu empfinden. Pablo war beinahe erschreckend gelehrig, er verfügte über ein beeindruckendes Gedächtnis, und einer der Lehrer bezeichnete den jungen bald als junges Genie. Er besaß nur keine Seele. Sie war das einzige, was ihm fehlte.
Einige Sekunden nach Pablos Geburt wurde mitten in London ein weiteres Kind dieser Art geboren, ein Mädchen, das Linda getauft wurde und ebenfalls außergewöhnlich hübsch war. Auch in der kleinen deutschen Stadt Boppard auf dem linken Rheinufer und in Lilongwe, der Hauptstadt des afrikanischen Staates Malawi, kam in den folgenden Minuten je ein solches Kind auf die Welt, dazu in China zwölf, in Japan zwei, in Indien acht und in Bangladesch vier. In jedem einzelnen Fall dauerte es viele Jahre, bis die lokalen Gesundheitsbehörden das seltene Syndrom der Seelenlosigkeit beschreiben konnten. In der Regel benutzten sie den Begriff Gehirnschaden, was von manchen Fachleuten kritisiert wurde, waren diese seelenlosen Kinder doch meist überdurchschnittlich intelligent.
Pablo war zwanzig Jahre alt und hatte bereits mehrere Vergewaltigungen und Morde begangen, darunter den brutalen Axtmord an seiner eigenen Mutter, als die WHO einen internationalen Bericht vorlegte, in dem nicht weniger als zweitausend Fälle dieses Phänomens behandelt wurden, das jetzt versuchsweise als LSD bezeichnet wurde, als LACK OF SOUL DISEASE. Aufsehenerregend an diesem UN-Bericht war vor allem die Tatsache, daß nun feststand, daß die LSD-Kinder immer in sehr kurzen Abständen geboren wurden. Etwa die Hälfte der gut zweitausend beschriebenen Fälle war im Laufe eines knappen Tages auf die Welt gekommen, doch erst vier Jahre darauf kamen sechshundert weitere LSD-Kinder dazu, auch sie innerhalb weniger Stunden; danach dauerte es acht Jahre, bis die nächste Welle von etwa vierhundert Fällen einsetzte. Der zeitliche Zusammenhang der Geburt von LSD-Kindern war offensichtlich, eine geographische Verbindung zwischen ihrem Auftreten suchte man vergebens. Nur Sekunden nach Pablos Geburt in Bolivien war Linda in London geboren worden, doch seither waren weder aus London noch aus Bolivien weitere Fälle gemeldet worden. Damit war jegliche vorstellbare Ansteckungsmöglichkeit ausgeschlossen, und auch von genetischen Ursachen konnte man absehen. Einige Astrologen deuteten die LSD-Kinder deshalb als endgültigen Beweis für den Einfluß der Sterne, doch bald sollte sich herausstellen, daß es sich dabei um einen übereilten und leichtfertigen Trugschluß handelte.
Eine Gruppe indischer Forscher zog mit Hilfe einer ausgeklügelten Bevölkerungsstatistik den überraschenden Schluß, daß die LSD-Kinder immer dann geboren wurden, wenn die Weltbevölkerung einige Monate zuvor eine bestimmte Anzahl überstiegen hatte. Nach einer tödlichen Epidemie, einer umfassenden Naturkatastrophe oder einem Kriegsausbruch mit hohen Verlusten an Menschenleben verging immer eine gewisse Zeit, ehe neue LSD-Kinder das Licht der Welt erblickten, was die indischen Forscher zu einer glasklaren Behauptung veranlagte: Es gibt im Universum eine bestimmte Anzahl von Seelen, allem Anschein nach exakt zwölf Milliarden. Wenn die Weltbevölkerung diese Zahl überschreitet, kommt es zu einem LSD-Baby-Boom, der anhält, bis die Weltbevölkerung wieder unter zwölf Milliarden sinkt.
Die neue Erkenntnis versetzte die ganze Welt in einen Schockzustand und hatte an den verschiedensten Fronten erhebliche Konsequenzen. Zur Ehre der römisch-katholischen Kirche muß gesagt werden, daß sie in einer Reihe von alten Streitfragen sofort einen neuen Kurs einschlug, etwa was das offizielle Verbot von Verhütungsmitteln betraf. Papst und Kurie stellten sich bald hinter eine wachsende internationale Bewegung, die ihre Ziele mit der schlichten Parole »Make love, not worms« vorstellte. Die Kirche lehnte im übrigen die Taufe von LSD-Kindern kategorisch ab und sah einen solchen Akt als ebenso gotteslästerlich an wie die Taufe eines Hundes.
Auch strafrechtlich mußten neue Wege eingeschlagen werden. In einigen Ländern wurden LSD-Verbrecher weiterhin bestraft wie alle anderen; die meisten Gesellschaften jedoch akzeptierten, daß ein LSD-Mensch ebensowenig für das verantwortlich ist, was er anrichtet, wie eine Flutwelle oder ein Vulkan. Daneben tobten die Diskussionen über die Frage, ob die
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