Der Geschichtenverkäufer
vielen Jahren teilen konnte, in denen sie zusammenlebten. Vielleicht dienten einige davon als Gutenachtgeschichten, denn ich hatte Maria auch einige harmlose Kindermärchen erzählt. Auf diese Weise waren die Geschichten, die ich für Maria erfunden hatte, weitergewandert, und jetzt hatte Beate sie sich vorgenommen, erst Schachgeheimnis, dann Dreifachmord post mortem. Maria hat erst von sich hören lassen, als ihre Tochter zu einer erwachsenen Frau geworden war, die schreiben konnte.
Sie war ein wenig verlegen, als sie erzählte, daß sie schreibt, und ich hätte diese Art von Verlegenheit besser kennen sollen als jeder andere. Es ist kein Wunder, daß man ein wenig in Verlegenheit gerät, wenn man eine Geschichte als eigene ausgibt, die in Wirklichkeit aus dem Mund eines anderen gestohlen wurde.
Dreifachmord post mortem . Mir schaudert. In gewisser Weise hat das Trio bereits einen Hieb der Todespeitsche zu spüren bekommen. Aber zwei von uns leben noch; wenn wir Meter dazunehmen, sogar drei.
Ich muß um Erlaubnis bitten, das arme Zirkusmädchen aufzuheben, das in der Manege zu Boden gesunken ist. Sie ist in die Sägespäne gefallen, dort hat der Zirkusdirektor sich an ihr vergangen. Nach all den Jahren im Ausland hatte sie den Weg zu ihrem Vater gefunden, doch er konnte das Schicksal nicht deuten und schändete sie. Er ist schon aus dem großen Buchzirkus in Bologna geflohen. Es wird keine weiteren Vorstellungen geben.
In einigen Stunden werde ich vielleicht die Geschichte einer Mutter und einer Tochter von fast drei Jahren hören, die eine Weile in Schweden lebten, um sich dann jedoch in Deutschland niederzulassen. Vielleicht waren sie nie in Schweden, vielleicht wurde die Tochter des Zirkusdirektors in Deutschland geboren, dort lebten damals doch Marias Eltern, aber auch das hatte ich vergessen.
Der Fehler war, daß ich nicht informiert wurde. Das Schicksalhafte war Marias Versuch, sich so weit von der ungeheuerlichen Seidenspinnerei zu entfernen, daß die Spinne sie nie wieder zu fassen bekommen könnte. Ich sollte nicht einmal erfahren, wie meine Tochter hieß, auch das war ein böser Patzer. Jeder Vater sollte den Namen seiner Tochter kennen.
Ein anderer Fehler war neueren Datums, und er ging auf mein Konto. Ich war geblendet von Luigis Gerede über eine Verschwörung erboster Autoren. Deshalb hatte ich mich Beate nicht vorgestellt. Aber ich wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, daß ich »Goldi« jemals wieder begegnen könnte. Ich hatte mir die Kleine nie als erwachsene Frau vorgestellt, ich hatte kaum je daran gedacht, wie alt sie jetzt war.
Es ist Nacht, aber ab und zu höre ich noch immer eine Vespa über die Küstenstraße fahren. Ich habe eine Weile vor dem Fenster gestanden und das Licht eines Bootes beobachtet, das sich weit draußen bewegt; ab und zu verschwindet die Laterne in einem Wellental, dann taucht sie wieder auf. Am Himmel steht der Halbmond, er nimmt ab, malt aber trotzdem einen breiten Silberstreifen aufs Wasser.
Wieder habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt. Ich starre einen idiotischen Garderobenständer im Schlafzimmer an, er sieht aus wie eine Vogelscheuche, und ich komme mir vor wie ein zerzauster Vogel.
Ich will nur noch Mensch sein. Ich will die Vögel und die Bäume ansehen und Kinder lachen hören. Ich will wirklich in der Welt sein, ohne alle Phantasie. Und zuerst muß ich um etwas so Alltägliches bitten wie um die Erlaubnis, meiner eigenen Tochter ein Vater zu sein. Vielleicht sieht sie keinen anderen Ausweg, als allen Kontakt zu mir abzubrechen, das könnte ich verstehen. Ich bin schuldig, aber besteht zwischen objektiver und subjektiver Schuld nicht ein kleiner Unterschied? Was ich Goldi angetan habe, war fahrlässig, aber nicht vorsätzlich.
Es ist fünf Uhr. Ich habe keine Kraft mehr. Das macht nichts, ich muß nichts mehr verteidigen.
Das Eis wirft Risse, und die kalte, finstere Tiefe unter der Oberfläche tut sich auf. Es werden keine Pirouetten mehr getanzt. Ich muß lernen, im tiefen Wasser zu schwimmen.
Meter steht mit fast feierlicher Miene vor dem Kamin. Zum ersten Mal liegt der Spazierstock wie eine schwere Last auf seiner Schulter. Er schaut zu mir hoch und fragt: Na, und jetzt? Wollen wir uns jetzt erinnern?
Aber ich halte es für unmöglich, mich an etwas zu erinnern, das passiert ist, als ich erst drei Jahre alt war. Ich schaue hinunter auf den kleinen Mann und sage: Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich habe die Sprache von damals vergessen.
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