Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
Vom Netzwerk:
unzertrennlich. Sie tuschelten und
     kicherten durchaus so viel wie die anderen Mädchen ihres Alters, aber eben immer nur
     miteinander. Manche hielten sie für dünkelhaft, denn Carl Deelwater besaß am meisten
     Weideland und den größten Hof in Bootshaven. Außerdem hatte er für sich und seine
     Familie eine eigene Kirchenbank in der ersten Reihe gekauft, in die sein Nachname
     eingeschnitzt war. Nicht dass er besonders fromm gewesen wäre. Selten genug ging er
     in die Kirche, aber wenn er es tat, an den hohen Feiertagen wie Ostern, Weihnachten
     und Erntedank, dann saß er vorne in seiner eigenen Bank mit seiner Frau und den
     Töchtern und ließ sich von der kleinen Gemeinde begaffen. An den vielen Sonntagen im
     Jahr, an denen er nicht in die Kirche ging, bliebdie Bank leer und
     wurde ebenfalls begafft. Anna und Bertha waren stolz auf ihren schönen Hof und auf
     ihren wunderbaren Papa, der sich zwar um die Hoferbschaft sorgte, dies aber nie
     ihnen beiden oder seiner Frau zum Vorwurf machte, sondern seine »drei Deerns«
     möglichst zu verwöhnen trachtete.
    Beide Töchter mussten auf dem Hof mit anpacken, sie gingen
     ihrer Mutter im Haus zur Hand und halfen dem Mädchen Agnes in der Küche, das jeden
     Tag kam und überhaupt kein Mädchen war, sondern eine gestandene Frau mit drei
     erwachsenen Söhnen. Sie kochten Saft mit Agnes und rupften Hühner. Aber am liebsten
     und am meisten arbeiteten sie draußen im Garten.
    Ab Ende August waren sie nur noch in den Apfelbäumen.
    Die hellen Glockenäpfel kamen zuerst, sie schmeckten nach
     Zitrone, und wenn sie erst einmal angebissen waren, konnten sie gar nicht so schnell
     gegessen werden, wie sie innen schon wieder braun wurden. Die wurden nicht verkocht,
     ihr Aroma verflog wie der Augustwind, unter dem sie gereift waren. Dann kamen
     langsam die Cox-Orange-Bäume, zuerst der große, der so nah am Haus stand und von den
     roten Klinkersteinen, die tagsüber die Hitze gespeichert hatten, bestrahlt wurde,
     sodass seine Früchte immer größer und süßer und früher reif waren als die der
     anderen Apfelbäume. Ab Oktober waren sie dann alle so weit. Anna und Bertha bewegten
     sich fast so behände in den Bäumen wie auf dem Boden. Ein Pferdeknecht hatte ihnen
     vor Jahren ein paar Bretter auf einen besonders ausladenden Boskopbaum genagelt,
     damit sie ihre Körbe darauf abstellen konnten. Aber die Mädchen saßen dort lieber
     selbst. Dann lasen sie sich Bücher vor, tranken Saft und aßen Äpfel und
     Butterkuchen, denAgnes ihnen immer dann herausbrachte, wenn einer
     ihrer Söhne vorbeigekommen war und selbst auch ein großes Stück Butterkuchen von ihr
     bekommen hatte. So konnte sie wenigstens sagen, Bertha und Anna hätten davon
     gegessen, falls vielleicht mal jemand fragte, warum von den beiden Blechen
     Butterkuchen nur noch eines da war. Aber es fragte nie jemand.

    Natürlich erzählte Herr Lexow mir nicht von Agnes’
     Butterkuchen. Ich glaubte nicht einmal, dass er wusste, dass es Agnes gegeben hatte.
     Ich saß am Küchentisch in Berthas Haus und sah meine Großmutter als Kind und meine
     Großtante Anna, die nie anders dreinblickte als auf dieser Fotografie. Ich erinnerte
     mich bei einem Becher lauwarmer H-Milch an Dinge, die Bertha meiner Mutter und diese
     mir erzählt hatte, die Tante Harriet Rosmarie und Rosmarie Mira und mir erzählt
     hatte, an Dinge, die wir uns ausgedacht oder zumindest ausgemalt hatten. Einige Male
     hatte auch Frau Koop uns erzählt, wie ihr Mann als Kind den Lehrer tot in der Klasse
     gefunden hatte. Aus dem Nachbarsjungen Nikolaus Koop war ein gutmütiger, fleißiger
     Bauer geworden, der außer dem grauen Star auch große Angst vor seiner Frau hatte.
     Seine Augen hinter dicken Brillengläsern begannen aufgeregt zu zwinkern, sobald er
     nur ihre Stimme hörte. Seine Lider flatterten wie die Flügel jenes Bluthänflings,
     der einmal aus Versehen durchs offene Wohnzimmerfenster des Deelwater’schen Hauses
     geflogen war und nicht mehr hinausfand. Tante Harriet war aufgesprungen und hatte
     uns befohlen, alle Fenster zu öffnen, damit er sich nicht an der Glasscheibe das
     Genick breche. Der Vogel flog davon, zwei rote Federn blieben auf der Fensterbank
     zurück.
    Nikolaus Koop zwinkerte oft, und wir hatten zudem beobachtet, dass
     er jedes Mal, wenn er seine Frau ansah, die Brille auf die Stirn zu schieben
     pflegte. Mira glaubte, er versuche durch selbst auferlegte Blindheit seiner Frau zu
     entkommen,

Weitere Kostenlose Bücher