Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
Vom Netzwerk:
gleichzeitig.
    - Sie zuerst.
    - Nein Sie, ich bitte Sie.
    - Na gut. Ich wollte mich nur bedanken, für die Suppe im
     rechten Augenblick, wie spät ist es wohl, und dafür, dass Sie nach dem Haus gesehen
     haben und sich um den Garten gekümmert haben. Herzlichen Dank, ich weiß gar nicht,
     wie wir Ihnen das zurückgeben können, was Sie hier an Zeit und und – und Liebe
     hineingesteckt haben, und –
    Herr Lexow unterbrach mich.
    - Hören Sie auf. Ich will Ihnen was sagen, etwas, das
     nicht viele Menschen wissen, genauer gesagt, wissen es nur noch zwei, den dritten
     Menschen haben wir gestern beerdigt, aber ob dieser es noch wusste? Sehen Sie, nun,
     da Sie von Liebe sprechen, also als Sie aufmachten und dieses Kleid trugen, da war
     mir –
    - Entschuldigen Sie, ich sehe, wie geschmacklos Ihnen das
     vorkommen musste, aber ich –
    - Nein, nein, also als Sie öffneten, da dachte ich. Sehen
     Sie, Ihre Tante Inga, also Inga und ich –
    - Sie lieben sie? Sie ist wunderschön.
    Herr Lexow runzelte die Stirn.
    - Ja. Nein, nicht, was Sie jetzt vielleicht denken. Ich
     liebe sie wie ein, wie ein … Vater.
    - Ja, natürlich. Ich verstehe.
    - Nein, ich sehe, dass Sie nicht verstehen. Ich liebe sie
     wie ein Vater, weil ich es bin.
    - Ein Vater.
    - Ja. Nein. Ihr Vater. Ich bin Ingas Vater. Ich liebte Bertha.
     Immer schon, bis zum Schluss. Es war mir eine Ehre, eine Schuld, es war meine
     Pflicht, nach ihrem Haus zu sehen. Bitte bedanken Sie sich nicht bei mir, das
     beschämt mich, es war das Mindeste, was ich für sie tun konnte, ich meine, nach
     allem …
    Herrn Lexow standen die Schweißperlen auf der Stirn. Fast
     weinte er. Ich selber hatte aufgehört zu essen. Ingas Vater. Damit hatte ich nicht
     gerechnet. Warum eigentlich nicht? Wusste Inga es?
    - Inga weiß es, ich schrieb es ihr, als Bertha ins Heim
     ging. Ich schlug ihr vor, dass ich nach dem Rechten sehen würde bis zu, also so
     lange, wie Bertha im Heim bleiben würde.
    Herr Lexow beruhigte sich, seine Stimme wurde fester. Ich
     stand auf, ging ins Schlafzimmer meiner Großeltern und holte mir ein Paar Wollsocken
     von Hinnerk und eine graubraune Strickjacke von Bertha aus dem Eichenschrank. Ich
     setzte mich auf den Hocker vor dem Frisiertisch, um die Socken anzuziehen. Bertha
     eine Ehebrecherin? Ich stolperte zurück in die Küche. Die Suppe war abgeräumt. Es
     standen zwei Becher auf dem Tisch, Herr Lexow, der Vater meiner Tante, also eine Art
     Großonkel von mir, rührte am Herd in einem kleineren Topf. Ich setzte mich auf
     meinen Stuhl und zog die Füße auf die Sitzfläche. Kurz darauf dampfte Milch in den
     Bechern, Herr Lexow setzte sich ebenfalls wieder und erzählte mit knappen Worten,
     was damals geschehen war.

[Menü]
    IV. Kapitel
    Carsten Lexow kam als junger Lehrer nach Bootshaven. Er
     war erst zwanzig Jahre alt und stammte aus Geeste, einem Dorf in der Nähe von
     Bremen. Die Schule in Bootshaven bestand aus einem großen Klassenzimmer, in dem alle
     schulpflichtigen Kinder zusammengefasst waren. Ein einziger Lehrer unterrichtete
     alles und alle zugleich. Nur einmal im Jahr, und zwar eine Woche nach Ende der
     Sommerferien, erschien der Pastor und begrüßte die neuen Konfirmanden.
    Carstens Vater war Kurzwarenhändler gewesen und vier Jahre
     vor Carstens Umzug nach Bootshaven an einer Kriegsverletzung gestorben. Fast acht
     Jahre lang war eine französische Gewehrkugel in seinem Körper umhergewandert, bis
     sie schließlich eines Tages in der Lunge ihre Wanderschaft beendete und damit auch
     das Leben des Kurzwarenhändlers Carsten Lexow senior. Carstens Vater war ein
     schweigsamer Mann, der viel Zeit in seinem Laden verbrachte und seiner Familie immer
     ein Fremder geblieben war. Carstens Mutter schob dies auf die wandernde Kugel, die
     ihn nicht richtig heimkehren ließ, aber vielleicht war es auch einfach seine Art.
     Vieles an ihm war kurz, nicht nur die Waren, die er verkaufte, auch seine Beine,
     seine Nase, seine Haare ebenso wie seine Sätze und sein Geduldsfaden. Lang war nur
     der Weg, den die Gewehrkugel in seinem gedrungenen Körper zurücklegte, aber als sie
     schließlich ihr Ziel erreicht hatte, war sein Sterben – genau wie sein Leben – kurz.
    Die Witwe Lexow führte das Kurzwarengeschäft alleinweiter, Carsten half manchmal bei den Büchern. Er hatte keine
     Geschwister, aber ein jüngerer Bruder der Witwe Lexow, höherer Beamter bei der Post
     und Junggeselle, erklärte sich bereit, seiner Schwester und

Weitere Kostenlose Bücher