Der Geschmack von Apfelkernen
seinem Neffen ein wenig
unter die Arme zu greifen. Da Carsten keine besondere Neigung zum Verkauf von
Nähgarn und Hutgummi zeigte, willigte die Witwe ein, ihren Sohn für eine
Lehrerausbildung nach Bremen zu schicken. Dort blieb Carsten zwei Jahre, bis er die
Stelle als Dorfschullehrer in Bootshaven bekam, ohne sich je dafür beworben zu
haben.
Der alte Lehrer war an einem Schlaganfall gestorben,
mitten im Unterricht, aber da er die Gewohnheit hatte, während der Stunde
einzunicken, beachtete keines der Kinder die in sich zusammengesunkene Gestalt. Wie
immer, wenn er einschlief, verließen die vierzehn Schüler nach dem Mittagsgeläut
leise kichernd den Raum. Auch dieses Mal vergaßen sie den Lehrer, bis sie ihn am
nächsten Morgen am Pult in genau derselben Stellung weiter schlafen sahen. Dass
Schule und Klassenzimmer nicht abgeschlossen gewesen waren, wunderte niemanden, der
alte Lehrer war immer schon zerstreut gewesen. Doch schließlich fasste sich der
älteste Schüler, es war Nikolaus Koop, ein Herz und sprach den kleinen blassen Mann
an, dessen Kopf so weit auf die Brust gesackt war, dass nur die Stirn zu sehen war.
Als er nicht antwortete, trat Nikolaus einen Schritt näher und sah seinen Lehrer
genau an. Die Koops waren Bauern wie fast alle Dorfbewohner. Nikolaus Koop hatte
schon oft beim Schlachten geholfen und einmal eine Kuh beim Gebären sterben sehen.
Er zwinkerte ein paarmal, drehte sich zu den anderen Kindern und sagte mit ruhiger
Stimme und längeren Pausen zwischen den Wörtern, heute sei wohl keine Schule, alle
sollten nach Hause gehen. Obwohl Nikolausein zurückhaltender Junge
war, der beim Völkerball oft schon als Erster abgeschossen wurde, und obwohl er zwar
der Älteste in der Klasse, nicht aber ihr Anführer war, gingen alle Schüler gehorsam
hinaus. Auch Anna Deelwater und ihre jüngere Schwester Bertha verließen mit den
anderen Kindern das Schulhaus, ihr Hof lag neben dem Koop’schen, und die drei gingen
den Schulweg sonst zusammen. Doch an diesem Tag liefen sie zu zweit nach Hause,
schweigend, die Köpfe gesenkt. Nikolaus Koop klingelte im Pfarrhaus, das neben der
Schule lag, und sagte dem Pastor Bescheid. Der saß am Schreibtisch und blätterte in
der Zeitung. Der Pastor schrieb noch am gleichen Tag seinem Freund, dem Pastor von
Geeste, und drei Tage später kam Carsten Lexow als Dorfschullehrer nach Bootshaven,
gerade rechtzeitig zur Beerdigung seines Vorgängers, was ein Segen für alle war. Die
Leute im Dorf waren erfreut, den neuen Lehrer sofort in Augenschein nehmen zu
können. Und Carsten Lexow pries sich glücklich, dass er seinen schwarzen Anzug
anhatte, der für die Beerdigung seines Vaters angefertigt worden war. Außerdem war
es eine gute Gelegenheit, sich gleich allen vorzustellen, bevor sie sich noch
Geschichten über ihn ausdachten. Geschichten dachte man sich natürlich trotzdem aus,
denn Carsten Lexow war groß und schlank und hatte dunkles Haar, das er nur mit Mühe
und einem streng gezogenen Scheitel auf der Seite halten konnte. Seine Augen waren
blau, aber Anna Deelwater entdeckte eines Tages, als er von ihrem Schreibheft
aufschaute, über das er sich während des Unterrichts gebeugt hatte, dass goldene
Ringe seine Pupillen einfassten, und sie sollte von diesem Augenblick an bis zu
ihrem Lebensende, das ja nicht mehr weit war, an diese Ringe gekettet bleiben.
Von Anna Deelwater, der ältesten Tochter von Käthe, eigentlich
Katharina, und Carl Deelwater, gab es nur eine einzige Fotografie, davon aber
mehrere Abzüge. Meine Mutter besaß einen, bei Tante Inga hing einer, Rosmarie hatte
einen mit Tesafilm in ihren Kleiderschrank geklebt. Tante Anna, so nannten meine
Tanten und meine Mutter sie, wenn sie von ihr sprachen, Tante Anna war dunkel wie
ihr Vater. Auf dem Foto sah es aus, als habe sie auch dunkle Augen gehabt, Tante
Inga meinte jedoch, das liege an der falschen Belichtung. Wir konnten mit Sicherheit
sagen, dass sie langgezogene graue Augen und breite Augenbrauen hatte, die einen
Bogen und keinen Balken bildeten. Annas Brauen beherrschten ihr Gesicht und gaben
ihm etwas Verschlossenes und zugleich Wildes. Sie war kleiner als ihre Schwester,
dafür aber nicht so dünn. Bertha, hochbeinig, hell und fröhlich, schien zwar vom
Aussehen und Wesen her das Gegenteil ihrer Schwester, doch beide waren sie
zurückhaltend, fast scheu, und ganz und gar
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