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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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seinem Neffen ein wenig
     unter die Arme zu greifen. Da Carsten keine besondere Neigung zum Verkauf von
     Nähgarn und Hutgummi zeigte, willigte die Witwe ein, ihren Sohn für eine
     Lehrerausbildung nach Bremen zu schicken. Dort blieb Carsten zwei Jahre, bis er die
     Stelle als Dorfschullehrer in Bootshaven bekam, ohne sich je dafür beworben zu
     haben.
    Der alte Lehrer war an einem Schlaganfall gestorben,
     mitten im Unterricht, aber da er die Gewohnheit hatte, während der Stunde
     einzunicken, beachtete keines der Kinder die in sich zusammengesunkene Gestalt. Wie
     immer, wenn er einschlief, verließen die vierzehn Schüler nach dem Mittagsgeläut
     leise kichernd den Raum. Auch dieses Mal vergaßen sie den Lehrer, bis sie ihn am
     nächsten Morgen am Pult in genau derselben Stellung weiter schlafen sahen. Dass
     Schule und Klassenzimmer nicht abgeschlossen gewesen waren, wunderte niemanden, der
     alte Lehrer war immer schon zerstreut gewesen. Doch schließlich fasste sich der
     älteste Schüler, es war Nikolaus Koop, ein Herz und sprach den kleinen blassen Mann
     an, dessen Kopf so weit auf die Brust gesackt war, dass nur die Stirn zu sehen war.
     Als er nicht antwortete, trat Nikolaus einen Schritt näher und sah seinen Lehrer
     genau an. Die Koops waren Bauern wie fast alle Dorfbewohner. Nikolaus Koop hatte
     schon oft beim Schlachten geholfen und einmal eine Kuh beim Gebären sterben sehen.
     Er zwinkerte ein paarmal, drehte sich zu den anderen Kindern und sagte mit ruhiger
     Stimme und längeren Pausen zwischen den Wörtern, heute sei wohl keine Schule, alle
     sollten nach Hause gehen. Obwohl Nikolausein zurückhaltender Junge
     war, der beim Völkerball oft schon als Erster abgeschossen wurde, und obwohl er zwar
     der Älteste in der Klasse, nicht aber ihr Anführer war, gingen alle Schüler gehorsam
     hinaus. Auch Anna Deelwater und ihre jüngere Schwester Bertha verließen mit den
     anderen Kindern das Schulhaus, ihr Hof lag neben dem Koop’schen, und die drei gingen
     den Schulweg sonst zusammen. Doch an diesem Tag liefen sie zu zweit nach Hause,
     schweigend, die Köpfe gesenkt. Nikolaus Koop klingelte im Pfarrhaus, das neben der
     Schule lag, und sagte dem Pastor Bescheid. Der saß am Schreibtisch und blätterte in
     der Zeitung. Der Pastor schrieb noch am gleichen Tag seinem Freund, dem Pastor von
     Geeste, und drei Tage später kam Carsten Lexow als Dorfschullehrer nach Bootshaven,
     gerade rechtzeitig zur Beerdigung seines Vorgängers, was ein Segen für alle war. Die
     Leute im Dorf waren erfreut, den neuen Lehrer sofort in Augenschein nehmen zu
     können. Und Carsten Lexow pries sich glücklich, dass er seinen schwarzen Anzug
     anhatte, der für die Beerdigung seines Vaters angefertigt worden war. Außerdem war
     es eine gute Gelegenheit, sich gleich allen vorzustellen, bevor sie sich noch
     Geschichten über ihn ausdachten. Geschichten dachte man sich natürlich trotzdem aus,
     denn Carsten Lexow war groß und schlank und hatte dunkles Haar, das er nur mit Mühe
     und einem streng gezogenen Scheitel auf der Seite halten konnte. Seine Augen waren
     blau, aber Anna Deelwater entdeckte eines Tages, als er von ihrem Schreibheft
     aufschaute, über das er sich während des Unterrichts gebeugt hatte, dass goldene
     Ringe seine Pupillen einfassten, und sie sollte von diesem Augenblick an bis zu
     ihrem Lebensende, das ja nicht mehr weit war, an diese Ringe gekettet bleiben.
    Von Anna Deelwater, der ältesten Tochter von Käthe, eigentlich
     Katharina, und Carl Deelwater, gab es nur eine einzige Fotografie, davon aber
     mehrere Abzüge. Meine Mutter besaß einen, bei Tante Inga hing einer, Rosmarie hatte
     einen mit Tesafilm in ihren Kleiderschrank geklebt. Tante Anna, so nannten meine
     Tanten und meine Mutter sie, wenn sie von ihr sprachen, Tante Anna war dunkel wie
     ihr Vater. Auf dem Foto sah es aus, als habe sie auch dunkle Augen gehabt, Tante
     Inga meinte jedoch, das liege an der falschen Belichtung. Wir konnten mit Sicherheit
     sagen, dass sie langgezogene graue Augen und breite Augenbrauen hatte, die einen
     Bogen und keinen Balken bildeten. Annas Brauen beherrschten ihr Gesicht und gaben
     ihm etwas Verschlossenes und zugleich Wildes. Sie war kleiner als ihre Schwester,
     dafür aber nicht so dünn. Bertha, hochbeinig, hell und fröhlich, schien zwar vom
     Aussehen und Wesen her das Gegenteil ihrer Schwester, doch beide waren sie
     zurückhaltend, fast scheu, und ganz und gar

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