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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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     gepasst, das er und alle anderen vom Herrn Notar hatten, wenn er sich unauffällig
     durch den Hinterausgang zur Arbeit geschlichen hätte. Auch dann nicht, als er im
     Büro längst nicht mehr das Sagen hatte. Doch immerhin hatte sich bis zu seinem Tod
     keiner der Partner getraut, sein Arbeitszimmer zu übernehmen, obgleich es das größte
     und schönste war.

    Wenn er weg war, hörte man lauteres Geschirrklappern aus
     der Küche, Frauenstimmen, Frauenlachen, rasche Schritte, Türenschlagen, aber durch
     den Hall, der in der hohen Küche die Stimmen verzerrte, konnte man nie hören,
     worüber geredet wurde. Aber welche Gefühle durch die Küche schwirrten, das war ganz
     genau zu hören. Waren die Stimmen gedämpft und tief, die Worte einsilbig und mit
     langen Pausen dazwischen, dann gab es Sorgen. Wenn viel und schnell gesprochen wurde
     und auf immer demselben, meist lauten Ton, dann waren es Berichte über Alltägliches.
     Wurde gekichert und geflüstert oder gab es gar unterdrückte Schreie, war es ratsam,
     sich schnellanzuziehen und hinunterzuschleichen, denn Geheimnisse
     wurden nicht mehrmals am Tag gelüftet. Später, als Bertha ihr Gedächtnis verlor,
     redete sie nicht mehr laut, es gab unterschiedlich lange Pausen, die immer, wenn sie
     zu lange zu dauern drohten, hastig von anderen Stimmen beendet wurden. Meistens
     gleich von mehreren anderen Stimmen auf einmal, die abrupt anschwollen und ebenso
     schnell wieder abebbten.

    An diesem Morgen war natürlich nichts zu hören. Ich war
     schließlich allein im Haus. Die Stille erinnerte mich an jenen anderen Morgen vor
     dreizehn Jahren, an dem auch nichts zu hören war. Nur ab und zu klapperte eine Tür
     oder eine Tasse. Ansonsten Stille. Es war eine Art Stille, wie sie nur nach einer
     Erschütterung eintreten konnte. Wie die Taubheit nach einem Schuss. Eine Stille wie
     eine Wunde. Rosmarie hatte nur ein ganz bisschen aus der Nase geblutet, aber auf der
     blassen Haut sah das kleine, scharf gezeichnete Rinnsal aus, als wolle es uns
     verhöhnen.

    Ich stand auf, wusch mir das Gesicht in Tante Ingas
     Zimmer, putzte die Zähne, schlüpfte in mein schwarzes, zerknittertes Kleid und ging
     hinunter, um Tee zu kochen. Ich fand eine ganze Reihe von Schachteln mit Beuteltee,
     sogar ein paar Cornflakes, die zwar schon ein bisschen nach Küchenschrank
     schmeckten, aber wenigstens noch nicht aufgeweicht waren. Wahrscheinlich von Tante
     Ingas kurzen Aufenthalten im Haus. Im Kühlschrank hatte ich noch Milch von Herrn
     Lexow.

    Später fuhr ich mit dem Fahrrad zur Telefonzelle an der
     Tankstelle und rief in Freiburg an. Natürlich war Sonntag, aber ich wusste, das Band
     in der Uni-Bibliothekwürde laufen. Ich sagte, ich müsse mir noch
     drei Tage freinehmen, um die Erbschaftsangelegenheiten hier zu regeln. Dann fuhr ich
     weiter zum Moorsee.

    Es musste noch sehr früh sein, denn die wenigen Menschen,
     die mir auf dem Weg begegneten, allesamt Hundebesitzer, grüßten mit diesem
     diskret-konspirativen Lächeln, mit dem sich wahrhaftige – da sonntägliche –
     Frühaufsteher einander zu erkennen geben. Der Weg zum See war leicht zu finden. Wie
     fast alle Wege hier ging es geradeaus über Weiden und durch kleine Wäldchen.
     Irgendwann bog ich rechts ab und fuhr auf einer Kopfsteinpflasterstraße durch eine
     Ortschaft, die aus drei Höfen mit Scheunen, Silos und Traktoren bestand, dann ging
     es um zwei Hügel herum, wieder über die Weiden, und im nächsten Wäldchen wieder
     rechts. Da lag er. Eine Scheibe aus schwarzem Glas.

    Nachher würde ich in den Schränken nach alten Badeanzügen
     suchen, ich wollte schließlich nicht zum öffentlichen Ärgernis werden. Aber diesmal
     würde es so gehen, es war ja noch niemand hier. Leider hatte ich nicht einmal ein
     Handtuch. Und im Haus gab es zwei, wenn nicht drei gewaltige Truhen voll davon.
     Kleid und Schuhe streifte ich rasch ab und ging in den See. Er war ganz zugewachsen,
     nur vorne gab es eine flache Stelle mit etwas Sand. Ein Stückchen Strand für eine
     Person. Ich ging langsam hinein. Ein Fisch zuckte an mir vorbei. Ich schauderte. Das
     Wasser war nicht mehr so kalt, wie ich gedacht hatte. Der weiche Grund quoll
     zwischen meinen Zehen hindurch, schnell stieß ich mich ab und schwamm.

    Immer wenn ich schwamm, fühlte ich mich in Sicherheit. Der Boden
     unter meinen Füßen konnte nicht weggezogen werden. Er konnte nicht brechen, nicht
     einsinken oder wegrutschen, weder sich

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