Der Geschmack von Apfelkernen
Bild
gepasst, das er und alle anderen vom Herrn Notar hatten, wenn er sich unauffällig
durch den Hinterausgang zur Arbeit geschlichen hätte. Auch dann nicht, als er im
Büro längst nicht mehr das Sagen hatte. Doch immerhin hatte sich bis zu seinem Tod
keiner der Partner getraut, sein Arbeitszimmer zu übernehmen, obgleich es das größte
und schönste war.
Wenn er weg war, hörte man lauteres Geschirrklappern aus
der Küche, Frauenstimmen, Frauenlachen, rasche Schritte, Türenschlagen, aber durch
den Hall, der in der hohen Küche die Stimmen verzerrte, konnte man nie hören,
worüber geredet wurde. Aber welche Gefühle durch die Küche schwirrten, das war ganz
genau zu hören. Waren die Stimmen gedämpft und tief, die Worte einsilbig und mit
langen Pausen dazwischen, dann gab es Sorgen. Wenn viel und schnell gesprochen wurde
und auf immer demselben, meist lauten Ton, dann waren es Berichte über Alltägliches.
Wurde gekichert und geflüstert oder gab es gar unterdrückte Schreie, war es ratsam,
sich schnellanzuziehen und hinunterzuschleichen, denn Geheimnisse
wurden nicht mehrmals am Tag gelüftet. Später, als Bertha ihr Gedächtnis verlor,
redete sie nicht mehr laut, es gab unterschiedlich lange Pausen, die immer, wenn sie
zu lange zu dauern drohten, hastig von anderen Stimmen beendet wurden. Meistens
gleich von mehreren anderen Stimmen auf einmal, die abrupt anschwollen und ebenso
schnell wieder abebbten.
An diesem Morgen war natürlich nichts zu hören. Ich war
schließlich allein im Haus. Die Stille erinnerte mich an jenen anderen Morgen vor
dreizehn Jahren, an dem auch nichts zu hören war. Nur ab und zu klapperte eine Tür
oder eine Tasse. Ansonsten Stille. Es war eine Art Stille, wie sie nur nach einer
Erschütterung eintreten konnte. Wie die Taubheit nach einem Schuss. Eine Stille wie
eine Wunde. Rosmarie hatte nur ein ganz bisschen aus der Nase geblutet, aber auf der
blassen Haut sah das kleine, scharf gezeichnete Rinnsal aus, als wolle es uns
verhöhnen.
Ich stand auf, wusch mir das Gesicht in Tante Ingas
Zimmer, putzte die Zähne, schlüpfte in mein schwarzes, zerknittertes Kleid und ging
hinunter, um Tee zu kochen. Ich fand eine ganze Reihe von Schachteln mit Beuteltee,
sogar ein paar Cornflakes, die zwar schon ein bisschen nach Küchenschrank
schmeckten, aber wenigstens noch nicht aufgeweicht waren. Wahrscheinlich von Tante
Ingas kurzen Aufenthalten im Haus. Im Kühlschrank hatte ich noch Milch von Herrn
Lexow.
Später fuhr ich mit dem Fahrrad zur Telefonzelle an der
Tankstelle und rief in Freiburg an. Natürlich war Sonntag, aber ich wusste, das Band
in der Uni-Bibliothekwürde laufen. Ich sagte, ich müsse mir noch
drei Tage freinehmen, um die Erbschaftsangelegenheiten hier zu regeln. Dann fuhr ich
weiter zum Moorsee.
Es musste noch sehr früh sein, denn die wenigen Menschen,
die mir auf dem Weg begegneten, allesamt Hundebesitzer, grüßten mit diesem
diskret-konspirativen Lächeln, mit dem sich wahrhaftige – da sonntägliche –
Frühaufsteher einander zu erkennen geben. Der Weg zum See war leicht zu finden. Wie
fast alle Wege hier ging es geradeaus über Weiden und durch kleine Wäldchen.
Irgendwann bog ich rechts ab und fuhr auf einer Kopfsteinpflasterstraße durch eine
Ortschaft, die aus drei Höfen mit Scheunen, Silos und Traktoren bestand, dann ging
es um zwei Hügel herum, wieder über die Weiden, und im nächsten Wäldchen wieder
rechts. Da lag er. Eine Scheibe aus schwarzem Glas.
Nachher würde ich in den Schränken nach alten Badeanzügen
suchen, ich wollte schließlich nicht zum öffentlichen Ärgernis werden. Aber diesmal
würde es so gehen, es war ja noch niemand hier. Leider hatte ich nicht einmal ein
Handtuch. Und im Haus gab es zwei, wenn nicht drei gewaltige Truhen voll davon.
Kleid und Schuhe streifte ich rasch ab und ging in den See. Er war ganz zugewachsen,
nur vorne gab es eine flache Stelle mit etwas Sand. Ein Stückchen Strand für eine
Person. Ich ging langsam hinein. Ein Fisch zuckte an mir vorbei. Ich schauderte. Das
Wasser war nicht mehr so kalt, wie ich gedacht hatte. Der weiche Grund quoll
zwischen meinen Zehen hindurch, schnell stieß ich mich ab und schwamm.
Immer wenn ich schwamm, fühlte ich mich in Sicherheit. Der Boden
unter meinen Füßen konnte nicht weggezogen werden. Er konnte nicht brechen, nicht
einsinken oder wegrutschen, weder sich
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