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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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auftun noch mich verschlingen. Ich stieß
     nicht gegen Dinge, die ich nicht sehen konnte, trat nicht versehentlich auf etwas,
     verletzte weder mich noch andere. Wasser war einschätzbar, es blieb immer gleich.
     Gut, mal war es klar, mal schwarz, mal kalt, mal warm, mal ruhig, mal bewegt, aber
     es blieb in seiner Beschaffenheit, wenn auch nicht in seinen Aggregatzuständen,
     immer gleich, war immer Wasser. Und Schwimmen, das war Fliegen für Feiglinge.
     Schweben ohne Absturzgefahr. Ich schwamm nicht besonders schön – mein Beinschlag war
     asymmetrisch –, aber zügig und sicher, und wenn es sein musste, auch stundenlang.
     Ich liebte den Moment des Verlassens der Erde, den Elementenwechsel, und ich liebte
     den Moment des Mich-verlassens darauf, dass das Wasser mich trug. Und, anders als
     Erde und Luft, tat es das ja auch. Vorausgesetzt, man schwamm.

    Ich schwamm quer durch den schwarzen See. Wo meine Hände
     die glatte Oberfläche berührten, wurde sie sofort wellig und flüssig und weich.
     Herrn Lexows Geschichte glitt von mir ab, alle Geschichten glitten von mir ab, und
     ich wurde wieder die, die ich war. Und da fing ich an, mich auf die drei Tage im
     Haus zu freuen. Was, wenn ich es behielte? Erst mal. Am anderen Ufer des Sees ging
     ich nicht an Land. Als die ersten Wasserpflanzenblätter meine Füße streiften, drehte
     ich sofort um und schwamm zurück. Es hat mir immer schon Angst gemacht, wenn mich im
     Wasser von unten etwas berührte. Ich fürchtete mich vor den Toten, die dort ihre
     weichen, weißenHände nach mir ausstreckten, vor riesigen Hechten,
     die vielleicht unter mir schwammen, an Stellen, wo das Wasser plötzlich ganz kalt
     wurde. Als Kind stieß ich einmal mitten im Baggersee gegen einen dieser großen
     verwesenden Baumstämme, wie sie von Zeit zu Zeit in solchen Seen auftauchten und
     dann knapp unter der Wasseroberfläche schwebten. Ich schrie und schrie und schrie
     und wollte nicht mehr wieder an Land. Meine Mutter musste mich rausholen.

    Ich blickte von weitem zu meinem Rad und dem kleinen
     schwarzen Kleiderhaufen auf dem weißen Sandstreifen. Und da sah ich doch tatsächlich
     noch ein zweites Rad und noch einen Kleiderhaufen. So weit wie möglich von meinem
     entfernt, aber das war nicht sehr weit, denn meiner lag ziemlich genau in der Mitte
     des kleinen Strandstücks. Und ich trug keinen Badeanzug. Hoffentlich war es eine
     Frau. Wo war sie?

    Ich entdeckte den schwarzen Schopf im Wasser, der auf mich
     zukam, die weißen Arme hoben und senkten sich langsam. Nein. Das konnte nicht sein,
     das gab es einfach nicht! Nicht schon wieder! Max Ohmstedt. Verfolgte er mich? Max
     kam erstaunlich schnell näher. Er hatte mein Rad natürlich gesehen, als er
     hineinging, aber hatte er es erkannt? Und das schwarze Kleid?

    Max schaute gar nicht auf, sondern pflügte mit großer Ruhe
     durch das dunkle Wasser. Ich hätte an ihm vorbeischwimmen, mich anziehen und nach
     Hause fahren können, und er hätte nichts gemerkt. Später fragte ich mich, ob er mir
     nicht genau dazu die Gelegenheit geben wollte. Nun jedenfalls rief ich halblaut:
    - Hey.
    Max hörte nicht, also musste ich noch lauter rufen:
    - Hey!
    Und:
    - Max!
    Da riss er den Kopf zu mir herüber, wir waren inzwischen
     auf gleicher Höhe, schob sich die nassen Haare, die an seiner Stirn klebten, nach
     oben und schaute mich ruhig an.
    - Hey, sagte er ein bisschen atemlos. Er lächelte nicht,
     blickte aber auch nicht unfreundlich. Er schien zu warten. Schließlich hob er kurz
     die Hand aus dem Wasser und winkte. Eine Bewegung, die in ihrer Verzögerung halb ein
     verlegener Gruß, halb Friedensfahne zu sein schien.
    Sein Ernst rührte mich ein bisschen, ebenso wie die
     hochgeschobenen Haare, die senkrecht von der Stirn nach oben zeigten. Ich musste
     lachen:
    - Ich bin’s doch nur.
    - Ja.
    Wir taten so, als stünden wir einander gegenüber und
     bemühten uns, so wenig wie möglich zu wackeln, aber die Beine unter uns traten wild
     das Wasser, damit wir nicht untergingen. Dabei suchten wir krampfhaft nach einem
     Thema für ein freundlich-distanziertes Gespräch. Ich war splitternackt und er mein
     Anwalt. Das alles ging mir durch den Kopf und trug nicht dazu bei, meiner
     Konversation eine sprühende Note zu verleihen. Zugleich überlegte ich verzweifelt,
     wie ich einen würdevollen Abgang hinbekommen könnte. Ein kleines Nicken und Lächeln,
     nicht zu herzlich, ein leicht hingeworfenes »Bis dann« und

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