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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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wie ein Schrei. Ich lief zurück in die Diele und versuchte, mich in der
     Dunkelheit zurechtzufinden – meine Augen hatten sich noch nicht an das Schummerlicht
     hier drinnen gewöhnt. Irgendwo in der Nische bei den Leitern hatte ich im
     Vorbeigehen große Farbeimer herumstehen sehen. Ich machte den ersten auf, aber der
     Rest weiße Farbe war steinhart und rissig. In den anderen Eimern sah es nicht anders
     aus. Also musste ich mich später darum kümmern. Wer hatte das dorthin gesprüht?
     Einer aus dem Dorf? Ein Rechter oder ein Linker? Ein Schwachkopf oder jemand, der es
     ernst meinte? Das Vergessen lag bei uns in der Familie. Vielleicht wollte uns ja
     jemand auf die Sprünge helfen.

    Um mich erst einmal abzulenken, nahm ich mir das
     Arbeitszimmer meines Großvaters Hinnerk vor. Ich wollte seinen Schreibtisch
     untersuchen. In der rechten unteren Klappe waren früher Süßigkeiten gewesen, After
     Eight, Toblerone und immer mehrere Dosen bunteKaramellbonbons von
     MacIntosh’s. Ich liebte diese Dosen, die Dame in diesem wunderschönen lila Kleid und
     die Pferdekutsche. Den Mann fand ich etwas störend mit seinem Lächeln und dem hohen
     Hut, aber ich geriet in Entzücken über den zarten und duftigen Sonnenschirm der Dame
     und die zierlichen Beine der Pferde. Und gab es nicht auch noch irgendwo ein
     schwarzes Hündchen? Nur die schmale Taille der lila Dame war beunruhigend. Ihr
     strahlendes Lächeln täuschte mich nicht darüber hinweg, dass sie jederzeit in der
     Mitte durchbrechen konnte. Man konnte nicht lange dorthin sehen. Die Bonbons klebten
     uns die Zähne zusammen, und wenn man Pech hatte, dann gab es nur noch die mit der
     kalten, zäh-weißlichen Füllung. Ich aß am liebsten die quadratischen Roten, Rosmarie
     mochte die goldenen Taler, nur Mira hielt sich an die After Eight. Doch ab und zu,
     wenn mein Großvater selbst die Dose herumreichte, nahm sie eines der klebrigen
     dunkelvioletten Krokantbonbons.

    Der Schlüssel steckte noch im Schreibtischschrank. Hinnerk
     hatte sich nie die Mühe gemacht, irgendetwas wegzuschließen. Es traute sich ohnehin
     keiner, bei ihm herumzuwühlen. Seine Zornausbrüche machten keinen Unterschied
     zwischen Kollegen und Untergebenen, Enkelinnen und deren Freundinnen, Ehefrau und
     Putzfrau, Freund oder Feind. Und vor seinen Töchtern machten sie auch keinen Halt,
     egal, ob deren Männer und Kinder gerade anwesend waren oder nicht. Hinnerk war ein
     Mann des Gesetzes, das hieß auch, er war das Gesetz. Fand Hinnerk. Aber Harriet fand
     das nicht.
    Ich öffnete den Schreibtisch, und der vertraute Geruch von
     Holzpolitur, Akten und Pfefferminz schlug mir entgegen. Ich setzte mich auf den
     Boden, atmete denGeruch und schaute in den Schreibtisch. Dort
     stand tatsächlich eine Dose MacIntosh’s, leer, und dann lag da noch ein schmales
     graues Buch. Ich zog es heraus, schlug es auf und sah, dass Hinnerk seinen Namen mit
     Tinte vorne hineingeschrieben hatte. Ein Tagebuch? Nein, ein Tagebuch war es nicht,
     es waren Gedichte.

[Menü]
    VII. Kapitel
    Harriet hatte uns früher schon von Hinnerks Gedichten
     erzählt. Sie wohnte zwar im selben Haus wie er, aber sie redete nicht viel mit ihm
     und noch weniger über ihn, und so fanden wir das mit den Gedichten umso seltsamer.

    Ihrem Vater begegnete Harriet, indem sie sich entzog. Als
     Kind erstarrte sie nicht in seiner Gegenwart wie Christa und Inga. Sie weinte auch
     nicht wie Bertha. Sie floh. Wenn er sie anschrie oder gar einsperrte, dann schloss
     sie die Augen und schlief ein. Wirklich, sie schlief ein. Das war keine Trance,
     keine Bewusstlosigkeit, es war Schlaf. Harriet selbst nannte es fliegen und
     behauptete, sie träume jedes Mal, sie schwebe erst über die Obstbaumwiese und dann
     langsam über die Apfelbäume in den Himmel. Dort drehte sie eine Runde über die
     Weiden und landete erst wieder, wenn ihr Vater mit lautem Türenknallen aus dem
     Zimmer gelaufen war. Hinnerk, obwohl er als Kind oft von seinem Vater geschlagen
     worden war, rührte – so rasend sein Zorn auch sein konnte – niemals einen Menschen
     an. Er drohte mit Prügel und, wie er es nannte, »körperlicher Züchtigung«, er
     schäumte und spuckte, seine Stimme überschlug sich und wurde so laut, dass es in den
     Ohren wehtat, er wurde zynisch und leise, er konnte die schrecklichsten Dinge
     flüstern, aber er schlug nicht zu und war auch nie versucht, es zu tun. Das nutzte
     Harriet für sich, schlief ein und flog

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