Der Geschmack von Apfelkernen
davon.
Harriet gehörte zu den Mädchen, die niemals nur einfach etwas
mögen oder gut finden, sondern schwärmen. Über Kinder und kleine Tiere geriet sie
ganz außer sich. Nach dem Abitur beschloss sie, Tiermedizin zu studieren, obwohl sie
naturwissenschaftlich unbegabt war. Schlimmer noch als ihre unterdurchschnittliche
Fähigkeit, logische Verknüpfungen durchzuführen, war die Tatsache, dass sie beim
Anblick einer kranken Kreatur sofort in Tränen ausbrechen konnte. Schon in der
zweiten Woche musste Harriets Professorin ihr erklären, dass sie nicht hier sei, um
Tiere liebzuhaben, sondern um sie gesundzumachen. Meine Mutter hat erzählt, wie
Harriet nach der ersten praktischen Stunde am Kadaver eines schwarz-weißen
Kaninchens dem Seminarleiter ihren Kittel vor die Füße geworfen habe und zusammen
mit dem Kittel auch gleich das gesamte Studium. Nachdem sie den Übungsraum verlassen
hatte, habe der Dozent ihr in milder Fassungslosigkeit nachgestarrt, sie sei aber
nicht mehr wieder zurückgekommen. Meine Mutter erzählte diese Geschichte immer im
Beisein von Harriet und immer mit deren kicherndem Einverständnis. Ich weiß nicht,
ob Harriet sie ihr einst selbst erzählt oder ob sie sie von einer ihrer früheren
Kommilitoninnen hatte. Auch Rosmarie mochte diese Geschichte, und so veränderte
meine Mutter sie immer ein wenig. Mal war es eine Katze, die seziert wurde, mal ein
Welpe, einmal sogar ein sehr kleiner Frischling.
Danach studierte Harriet Sprachen, Englisch und
Französisch, und wurde nicht Lehrerin, wie ihr Vater es eigentlich für sie
vorgesehen hatte, sondern Übersetzerin. Das war etwas, das sie sehr gut konnte. Sie
war in der Lage, sich ganz in die Gedanken und Gefühle andererhineinzubegeben – die geborene Vermittlerin zwischen zwei Welten, die sich nicht
miteinander verständigen konnten. Sie vermittelte zwischen den Schwestern. Zwischen
ihrer Mutter und der Schneiderin, die zweimal im Jahr ins Haus kam. Zwischen ihrem
Vater und ihren Lehrern. Weil sie alles und jeden verstand, fand sie es schwer, sich
selbst einen festen Standpunkt zu verschaffen. Stehen, dafür war sie ohnehin nicht
gemacht: Harriet pflegte zu schweben. Und zwar über den Dingen – und natürlich in
ständiger Gefahr, abzustürzen und auf dem Boden aufzuschlagen. Aber
merkwürdigerweise waren diese Abstürze selten hart, eigentlich trudelte sie eher
hinab. Unten angekommen, wirkte sie zwar ein wenig zerzaust und müde, aber
keineswegs zerschmettert.
Als einziges der drei Mädchen hatte Harriet so etwas wie
Jungsgeschichten. Christa war zu schüchtern. Inga hatte ihre Verehrer, die sie
anschauen, aber nicht anfassen durften und es vielleicht auch gar nicht darauf
abgesehen hatten. Harriet war keine besonders trickreiche oder heißblütige
Liebhaberin, aber sie brauchte nur auf eine bestimmte Weise angesehen zu werden, und
sofort fing es in ihrem Bauch an zu flattern. Ohne Mühe ließ sie sich mitreißen, und
sie war fähig zu einer Ekstase, die den Jungen schier den Atem raubte. Sie war
vielleicht nicht das, was man gut im Bett nannte, was immer das auch sein mochte,
aber sie machte, dass die Männer sich fühlten, als wären sie es. Und das war fast
noch besser. Hinzu kam, dass sie als jüngste der Schwestern auch in jene Zeit
geriet, in der plötzlich Blumen, Sex und Frieden eine wichtige Rolle spielten. Nicht
in Bootshaven und am allerwenigsten im Haus in der Geestestraße. Anders als Christa
und Inga studierte Harriet in Göttingen, hatte ein paarindische
Blusen im Schrank und trug mit Vorliebe eine Hose, die oben eng und unten weit war
und aus lauter gleich großen rechteckigen Lederflicken bestand. Und sie begann, sich
die kastanienbraunen Haare mit Henna zu färben. Wahrscheinlich war Harriet ein
Hippie, aber es gab keinen Bruch in ihrer Persönlichkeit, keinen Sprung. Sie wurde
genau so, wie sie ohnehin war.
Obwohl nur drei Jahre zwischen Inga und Harriet lagen und
fünf zwischen Christa und Harriet, schien dieser Abstand wie eine ganze Generation.
Doch da Harriet nun mal aus der Familie kam, aus der sie kam, bewegte sich ihr
Hippiesein in gemäßigten Bahnen. Sie nahm keine harten Drogen, trank höchstens etwas
Haschisch-tee, den sie aber nicht mochte und von dem sie vor allem Hunger kriegte.
Ihre berauschte Seele hatte gar keine Zeit, die Flügel zu spannen und über den
Horizont hinaus zu segeln, da Harriet
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