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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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nicht mehr oder ihre Handtasche oder den Hausschlüssel.
     Sie verwechselte Termine, und es wollte ihr plötzlich auch der Name von Hinnerks
     Sekretärin, die schon über dreißig Jahre in der Kanzlei arbeitete, nicht mehr
     einfallen. Dies alles machte sie erst nervös, dann besorgt. Schließlich, als sie
     merkte, dass es immer schlimmer wurde und auch niemand da war, der ihr helfen oder
     mit dem sie darüber sprechen konnte, als ganze Teile ihres Lebens, nicht nur des
     jetzigen, auch des früheren Lebens, einfach im Nichts versanken, bekam sie große
     Angst. Diese Angst führte dazu, dass sie oft weinte, morgens mit Herzklopfen im Bett
     lag und einfach nicht aufstehen wollte. Hinnerk fing an, sich für sie zu schämen und
     sie mit leiser Stimme zu beschimpfen. Sie machte ihm kein Frühstück mehr. Der Weg
     von der Küche zum Esszimmer war lang, und wenn man im einen Zimmer war, wusste man
     gar nicht mehr, was man aus dem anderen holen wollte. Hinnerk gewöhnte sichdaran, sich den Becher Milch, den er morgens immer trank, selbst
     einzuschenken und dann beim Bäcker gegenüber der Kanzlei ein Rosinenbrötchen zu
     kaufen. Eigentlich brauchte er auch gar nicht mehr zu arbeiten, aber er empfand es
     als unangenehm, bei Bertha zu sein und ihren unsicheren Schritt durch das Haus
     hallen zu hören. Wie ein ruheloser Geist streifte sie treppauf, treppab, rumorte in
     Schränken, wühlte in den alten Sachen, stapelte sie auf und ließ sie liegen. Dann
     und wann gelangte sie dabei auch ins Schlafzimmer und zog sich immer wieder andere
     Kleider an. Waren sie im Garten, so stürzte sich Bertha auf Fremde, die an der
     Einfahrt vorbeikamen, um sie mit überschwänglichen und zugleich unvollständigen
     Sätzen zu begrüßen, so als wäre man schon seit Jahr und Tag eng befreundet. »Oh. Da
     ist ja mein bester Mann«, rief sie über die Weißdornhecke, und der Spaziergänger
     drehte sich erschrocken um, um zu sehen, wem das strahlende Lächeln dieser älteren
     Dame galt. Berthas Verwirrung war Hinnerk peinlich, das war keine ehrliche Krankheit
     mit Schmerzen und Medikamenten. Diese Krankheit erfüllte ihn mit Zorn und Scham.

    Meine Mutter wohnte weit weg. Inga war in der Stadt und
     sehr beschäftigt mit ihrer Fotografie. Harriet schwebte sowieso über den Dingen, sie
     machte immer irgendwelche Phasen durch und hatte zu jeder Phase auch einen neuen
     Mann, was Hinnerk noch viel wütender machte als alles andere. So rief er ab und zu
     meine Mutter an, schimpfte über Bertha, verriet aber nichts über seine wachsende
     Beunruhigung. Inga merkte als Erste, dass Bertha Hilfe brauchte. Dass auch Hinnerk
     Hilfe brauchte, das merkten wir erst, als es eigentlich schon zu spät war. Essen auf
     Rädern wurde bestellt. Wenn Bertha Mittagaß, dann wollte sie
     nicht, dass Flecken auf das Tischtuch kamen. Wenn es passierte, sprang sie auf und
     suchte nach einem Lappen, aber meistens kam sie nicht mehr wieder zurück zum Tisch.
     Und wenn doch, dann nicht mit einem Lappen, sondern mit einem Topf, einer Tüte
     Milchreis oder einem Damenstrumpf. Wenn sie der Ansicht war, dass meine Ärmel zu
     lang waren und Sorge hatte, sie könnten ins Essen hängen, sagte sie: »Man muss da
     hinterhergehen, sonst verbrennt es.« Aber wir konnten verstehen, was sie meinte, und
     uns die Ärmel hochkrempeln. Später gelang uns das nicht mehr, und dann wurde sie
     ärgerlich und stand auf, oder sie fiel in sich zusammen und weinte tonlos.
    Eine der Kränzchenschwestern, Thede Gottfried, kam drei
     Tage die Woche zum Putzen und Aufräumen und Einkaufen und Spazierengehen. Irgendwann
     fing Bertha an wegzulaufen. Sie ging hinaus auf die Straße, verirrte sich und fand
     nicht mehr zurück in das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Täglich musste Hinnerk
     sie suchen, meistens war sie dann doch nur irgendwo im Haus oder im Garten, aber
     beides war groß genug, um lange auf der Suche zu sein. Im Dorf kannte sie fast
     jeder, da wurde sie früher oder später wieder von irgendwem nach Hause begleitet,
     allerdings brachte sie einmal ein Fahrrad mit, das ihr nicht gehörte. Ein anderes
     Mal lief sie auch nachts hinaus. Das Auto konnte aber rechtzeitig bremsen. Sie
     begann sich einzunässen, wusch sich in der Klospülung die Hände und warf immer
     wieder kleine Dinge in die Toilette: Briefumschläge, Gummibänder, kaputte
     Reißzwecken, Unkraut. Hundertmal am Tag durchwühlte sie ihre Taschen nach einem
     Taschentuch, und wenn keines da

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