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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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war, weil sie es wenige Minuten vorher herausgekramt
     und in eine andere Tasche gesteckt hatte, geriet sie inVerzweiflung. Sie wusste nicht, was da mit ihr geschah, keiner sprach mit ihr
     darüber, und zugleich konnte sie nicht anders, als es doch zu wissen. Manchmal
     fragte sie meine Tanten oder meine Mutter, wenn diese mal auf Besuch war, mit
     Flüsterstimme und Angst im Gesicht: »Was wird werden?« oder »Wird das jetzt so
     bleiben?« oder »Aber früher, da war es nicht so, da hatte ich noch alles, jetzt habe
     ich nichts«. Sie weinte mehrmals am Tag, war schreckhaft, der kalte Schweiß stand
     ihr immer wieder auf der Stirn, und ihre innere Erregung entlud sich in plötzlichem
     Aufspringen und Weggehen, kleinen Spurts und ruhelosen Wanderungen durch das große,
     leere Haus. Meine Tanten versuchten, sie zu beschwichtigen, sagten, das sei das
     Alter und sie habe es doch im Grunde ganz gut. Und obwohl sie bei einem Arzt in
     Behandlung war, fiel das Wort »Krankheit« in Berthas Gegenwart nie.

    Hinnerk war sechs Jahre älter als Bertha. Als er mit
     fünfundsiebzig einen Herzinfarkt bekam, war das eigentlich noch zu früh dafür, dass
     er im Grunde ganz gesund war. Und die Ärzte deuteten an, dass es nicht der erste
     Infarkt gewesen sein konnte. Aber wer hätte den oder die anderen bemerken sollen?
     Zwei Wochen lang lag er im Krankenhaus, und meine Mutter reiste zu ihm. Sie hielt
     seine Hand, und er hatte Angst, weil er wusste, dass dies das Ende sein würde. An
     einem Nachmittag sagte er nur den Namen meiner Mutter mit jener Zartheit, zu der er
     fähig war, aber die er nur selten zeigte, und starb. Währenddessen waren meine
     Tanten bei Bertha geblieben. Sie waren traurig darüber, dass sie sich nicht
     verabschieden konnten, traurig und zornig darüber, dass Hinnerk eine
     Lieblingstochter gehabt hatte, dass sie zu wenig von ihm gehabt hatten, vor allem
     natürlich zu wenig Liebe, dass jetzt nurnoch das Wrack meiner
     Großmutter übrig geblieben war, dass meine Mutter wieder in den Süden davonrauschen
     durfte, wo ein treuer Mann und eine Tochter auf sie warteten und ihr Trost und
     Beistand bieten konnten. Diese Trauer und dieser Zorn ließen sie schreckliche Dinge
     zu meiner Mutter sagen. Sie warfen ihr vor, sie drücke sich vor der Verantwortung
     für ihre Mutter. Meine Großmutter stand dabei und weinte, sie verstand nicht, worum
     es ging, aber sie hörte die Bitterkeit, die enttäuschte Liebe, die sich in den
     Stimmen ihrer Töchter entlud. Christa hatte während der ganzen Zeit, in der Bertha
     noch lebte, und das waren vierzehn Jahre gewesen, ein sehr gespanntes Verhältnis zu
     ihren Schwestern gehabt. Nach jedem Anruf und vor jedem Besuch konnte sie nächtelang
     nicht schlafen. Als meine Tanten zwei Jahre nach Rosmaries Tod beschlossen, Bertha
     ins Heim zu geben, wurde Christa vorher spöttisch gefragt, ob sie ihre Mutter denn
     jetzt endlich zu sich nehmen wolle. Inga und Harriet hätten sich wahrlich lange
     genug um sie gekümmert. In der letzten Zeit hatten sich die drei Schwestern wieder
     vorsichtig angenähert: Sie waren drei Schwestern, sie waren über fünfzig, sie hatten
     viele Träume begraben, sie hatten Rosmarie begraben, und jetzt, jetzt hatten sie
     ihre Mutter begraben.

    Das Gras dort zwischen den Apfelbäumen war viel höher als
     hier hinter dem Haus. Ich musste mich doch nochmal mit Lexow treffen. So leicht kam
     er mir nicht davon. Ich trank meinen Tee und aß mein Brot und dachte ein bisschen an
     Max und schüttelte den Kopf. Was war da eigentlich gewesen?
    Die Sonnenstrahlen wurden schärfer. Ich nahm mein Tablett
     und wollte gerade feierlich – mit meinemgoldenen Kleid ging das
     nicht anders – ins Haus zurückschreiten, da sah ich durch die Bäume den alten
     Hühnerstall, das »Hock«, wie sie ihn hier nannten. Irgendetwas Rotes war auf den
     grauen Putz gemalt. Ich lief an den Obstbäumen vorbei zu jenem Haus, in dem schon
     meine Mutter und ihre Schwester mit Puppen gespielt hatten. Rosmarie, Mira und ich
     hatten es als Regenhaus benutzt. Ich sah von weitem die rote Sprühfarbe und dann das
     Wort »Nazi«. Erschrocken drehte ich mich um, als erwartete ich, noch einen Sprayer
     hinter den Holunderbüschen wegspringen zu sehen. Mit einem Stein versuchte ich, das
     Wort wegzukratzen, was aber nicht klappte. Als ich mich nach dem Stein bückte, trat
     ich auf den Saum meines Kleides, und beim Hochkommen riss der mürbe Stoff. Es hörte
     sich an

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