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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Mangelmaschine im Keller. Sie buk Hefekuchen oder kochte Marmelade ein. Oder sie war gar nicht da, weil sie bis zur Erschöpfung durch die staubigen Spargelfelder rannte und das machte, was sie »einen Waldlauf« nannte. Wenn Christa sich abends auf das Sofa setzte, dann nur, um dort nach der Tagesschau fernzusehen oder die Zeitung zu lesen und recht bald einzuschlafen, irgendwann verwirrt hochzufahren und ein bisschen zu schimpfen: dass es schon so spät sei und dass wir – also mein Vater und ich – doch endlich ins Bett gehen müssten und dass sie, Christa, jetzt aber ins Bett gehe. Und das tat sie dann auch.
    Doch an den wenigen Abenden, an denen ich sie auf dem Sofa fand – es mögen vielleicht insgesamt sieben oder acht gewesen sein –, hatte sie den Plattenspieler laut gedreht. Ungewohnt laut. Unangemessen laut. Rebellisch laut. Ich kannte die Schallplatte. Auf der Hülle war ein Mann mit Vollbart, Fischerhemd und Prinz-Heinrich-Mütze irgendwo auf einer Wiese oder einem Strand und sang plattdeutsche Lieder zur Gitarre: »Ick wull wiweern noch kleen, Jehann!«, rief dieser Mann weniger sehnsuchtsvoll als fordernd durch unser Wohnzimmer. Ich wusste nicht, ob ich einfach wieder gehen sollte, weil ich ganz klar irgendwo eindrang, wo ich nicht hingehörte. Aber ich ging nicht, denn ich wollte, dass das aufhörte. Ich wollte, dass meine Mutter wieder meine Mutter würde und nicht Christa Lünschen, die Schlittschuhläuferin aus Bootshaven. Einerseits brach es mir das Herz, meine Mutter dort hocken und ruckeln zu sehen, und ich machte mir Vorwürfe, weil ich und mein Vater es offenbar nicht schafften, sie glücklich zu machen. Andererseits war ich entrüstet und empfand ihr Heimweh als Verrat.
    So blieb ich in der Tür stehen, konnte nicht hinein zu ihr, aber auch nicht fortgehen. Wenn es zu lange dauerte, bewegte ich mich. Meine Mutter sah auf, erschrak, manchmal entfuhr ihr sogar ein Schrei. Sie sprang auf die Füße und stellte die Platte aus. Mit einer Stimme, die munter klingen sollte, sagte sie:
    - Iris, ich habe dich ja gar nicht gehört! Wie war’s bei Anni?
    Wenn sie so ertappt klang, dann hatte sie ja wohl auch etwas zu verbergen. Also doch Verrat. Ich sagte verächtlich:
    - Was hörst du denn da für ein Zeug? Grauenvoll.
    Dann ging ich ins Wohnzimmer, machte den Schrank mit den Süßigkeiten auf, an den ich nur durfte, wenn ich gefragt hatte, nahm mir ein großes Stück Schokolade raus, drehte mich um und ging hinauf in mein Zimmer, um zu lesen.

    Hatte Bertha auch Heimweh gehabt? Bertha, die ihr Haus nie verlassen hatte. Dass ein Heim ausgerechnet Heim hieß, war eine Gemeinheit, die dem Wort »Heim«für immer den obersten Listenplatz der »falschen Wörter« zusicherte.
    Nachdem Bertha aus ihrem Haus in ein Heim gebracht worden war, wusste sie nie wieder, wo sie war. Und doch schien sie zu wissen, wo sie nicht war. Ständig packte sie Koffer, Taschen, Plastiktüten, Manteltaschen mit Dingen voll. Und jeden Menschen, der in ihre Nähe kam, ob Besucher, Schwester oder Mitbewohner, fragte sie, ob er sie nach Hause bringen könne. Das Heim tat Bertha weh. Es war ein teures privates Pflegeheim. Aber die Dementen gehörten zweifelsfrei in die unterste Kaste der heimlichen Hackordnung. Gesundheit war das höchste Gut. Die Tatsache, dass man früher ein Bürgermeister, eine reiche Dame der Gesellschaft oder ein angesehener Wissenschaftler gewesen war, spielte keine Rolle. Im Gegenteil, je höher man einst stand, desto tiefer konnte man fallen. Rollstuhlfahrer waren zwar in der Lage, Bridge zu spielen, aber nicht, zum Tanztee zu gehen. Das war eine unumstößliche Tatsache. Außer Klarheit im Geiste und körperlicher Gesundheit konnte man sich im Heim noch durch eine andere Sache Respekt und Ansehen verschaffen: durch Besuch. Hierbei zählte die Häufigkeit der Besuche, die Regelmäßigkeit und Dauer. Gut war auch, wenn nicht immer nur die Gleichen kamen. Männer zählten mehr als Frauen. Jüngere Besucher waren besser als alte. Heimbewohner, deren Familien oft kamen, wurden respektiert: Sie mussten zweifellos etwas richtig gemacht haben in ihrem Leben.
    Berthas treueste Kränzchenschwester Thede Gottfried war jeden zweiten Dienstagvormittag gekommen – ihre Schwägerin war im gleichen Heim untergebracht. Christa hatte Bertha immer nur in den Schulferien besucht, dann aber täglich. Tante Harriet kam an allen Wochentagen, Tante Inga jedes Wochenende.
    Bertha vergaß ihre Töchter der Reihe nach. Die

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