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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Wörter« und »Geheimwörter«. Unter »schöne Wörter« hatte ich aufgelistet: Wiesenschaumkraut, violett, Sinnsucher, Schattenmorelle, Brotfrucht, quetschen, Schneebesen, Ellenbogen, Wolke. Bei den »hässlichen Wörtern« stand: Kropf, Rumpf, Stumpf, Ohrenschmalz. »Falsche Wörter« empörten mich, weil sie so taten, als wären sie harmlos, und dann aber gemein oder gefährlich waren, etwa wie »Nebenwirkung« oder »pikieren«. Oder sie taten, als wären sie zauberisch, so wie »Rettungsring« und »Baumschule«, und waren dann aber enttäuschend normal. Oder sie bezeichneten etwas, was für niemanden klar war: Keine zwei Menschen, die man fragte, hatten dieselbe Farbe vor Augen, wenn sie das Wort »purpurrot« hörten!
    Die »verdrehten Wörter« waren so etwas wie ein Hobby. Oder war es eine Krankheit? Es kam vielleicht auf dasselbe heraus. Der Taubenhaucher gehörte zu meinen Lieblingstieren ebenso wie das Kuschbänguruh und die Dringsossel. Ich fand es lustig, über das grüne Klo zu leben, und liebte jenes Herbst-Gedicht, das mit der Aufforderung begann, doch umgehend in den totgeparkten Sarg zu kommen. Wie Luftschutzkellertreppen aussahen, konnte ich mir vorstellen, aber was waren Schuftlutztellerkreppen? Ich vermutete eine Art Einwickelpapier für Geschirr, das auch als Maske für Raubüberfälle verwendbar war.
    Die »Geheimwörter« waren am schwierigsten zu finden, das gehörte sich auch so. Es waren Wörter, die so taten, als wären sie ganz normal, aber dann etwas ganz anderes, Wunderbares in sich trugen. Also das Gegenteil der »falschen Wörter«. Dass man in der Aula meiner Schule eine verwunschene Südseeinsel finden konnte, gab mir Trost. Die Insel hieß »Schula-Ula«, und es lag ein Schatz auf ihr vergraben.
    Oder Straßenschilder mit dem Wort »Spurrillen« deuteten in Wirklichkeit daraufhin, dass es hier in der Nähe irgendetwas Köstliches, wahrscheinlich Österreichisches, zu essen gab: Warme Spurrillen-Knödel mit Vanillesoße stellte ich mir herrlich vor und freute mich jedes Mal, wenn wir an einem solchen Schild vorbeikamen. Oder jene seltene und wohlschmeckende Fischart der Lachs-Alven. Gegrillt mit etwas Olivenöl, ein Gedicht.
    Meine Erinnerungen hatten mich hungrig gemacht, also ging ich hinein. Leider gab es in der Küche fast nichts Essbares mehr. Ich aß Schwarzbrot mit Nussschokolade und beschloss, nachher einkaufen zu gehen.
    Ich rannte nach oben und holte mir ein bretthartes, aber immerhin geblümtes Frotteehandtuch aus der kleinen Wäschetruhe in Ingas Zimmer. Das klemmte ich mir auf den Gepäckträger und fuhr zum See. Es war ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag, ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich weder in der Bibliothek war noch mich um die Hinterlassenschaftsdinge kümmerte, und am Boden zerstört vor Trauer war ich auch nicht. Nun, ich hatte mir freigenommen, auch wenn es nur per Anrufbeantworter war. Ich hatte keine Adresse und Telefonnummer dort hinterlassen, aber wie auch. Ich musste nachher noch einmal versuchen, meine Chefin zu erreichen.

    Natürlich war mein Beruf nur eine Fortsetzung des Sammelns von Geheimnissen. Und wie ich später die Steine, in denen ich Kristalle vermutete, nicht mehr aufsägte, sondern nur noch aufhob, so hörte ich auch auf, die Bücher zu lesen, die mich wirklich interessierten, und interessierte mich für Bücher, die keiner mehr las.
    Als wir kleiner waren, machte sich Rosmarie immer darüber lustig, dass ich es persönlich nahm, wenn die Nüsse, die wir knackten, taub waren. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie die Nuss durch die geschlossene Schale herausgelangt war. Ihr liebster Scherz war es, ein weiches Frühstücksei auszulöffeln und es mir dann so zu reichen, dass das Loch unten im Eierbecher verschwand. Wenn ich auf das Ei schlug und mit dem Löffel ins Leere stieß, heulte ich jedes Mal laut auf. Und jetzt hatte man mir dieses Haus überreicht. Wenn ich es ablehnte, würde ich für immer davon träumen.

    Frühnebel dampfte noch über dem Moorsee. Ich legte mein Rad auf das abschüssige Gras und zog mich aus. Wie eine Wolke fiel das Kleid in den Tau. Ich breitete das Handtuch aus und tat meine Sachen darauf, damit sie sich nicht vollsogen. Als ich ins Wasser watete, stoben kleine Fische um meine Knöchel und retteten sich ins Schwarze. Kalt war es. Wieder fragte ich mich, was da drinnen alles so herumschwamm. Tauchen hatte mich nie gereizt, aufgewühlte Meere, trübe Kiesgruben und dunkle Moorseen

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