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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Nächste oder übernächste Woche konnten die Knollen in die Erde. Sie sprachen über Anna. Er wollte wissen, ob Anna mit Bertha gesprochen hatte, kurz vor ihrem Tod. Bertha blickte ihn nachdenklich an, ohne beim Krabbenpulen innezuhalten. Ihre Finger nahmen das Krebstier, knackten es mit dem Daumen an jener Stelle hinter dem Kopf und zogen rasch, fest, aber doch zart die beiden Panzerhälften auseinander, sodass die Beinchen und das schwarze Rückgrat mit abgestreift wurden. Bertha sagte nichts und beugte sich wieder über die Krabben. Er schaute sie an, eine Strähne ihres blonden Haars hatte sich aus der Hochsteckfrisur gelöst. Noch ehe er es sich anders überlegen konnte, nahm er die Strähne und steckte sie ihr hinter das Ohr. Erschrocken griff sie nach ihrem Haar und erwischte seine Hand. Berthas Hand war kalt und roch nach Meer. Ja, hatte sie geflüstert. Ja, Anna habegesprochen. Sie habe es aber nicht richtig verstanden. Doch ja, es habe etwas mit ihm, Herrn Lexow, zu tun gehabt. Carsten Lexow war wie von Sinnen. Jene Nacht lag jetzt fünfzehn Jahre zurück. Er hatte seither jeden Tag seines Lebens an sie gedacht. Er sank vor Bertha auf die Knie und stammelte etwas, sie schaute ihn ratlos, aber voller Mitgefühl an und nahm sein Gesicht zwischen ihre Handgelenke. An ihren nassen Krabbenfingern klebten winzige rosa Fühler und Beinchen. Das Zeitungspapier mit den Schalen rutschte von Berthas Beinen. Da vergrub er sein Gesicht in ihrem Schoß, sein Körper zuckte, ob vom Weinen oder von etwas anderem, vermochte Bertha nicht zu sagen. Sie strich ihm mit dem Unterarm über den Rücken wie bei einem Kind.
    Die kleine Christa war nicht im Haus. Das Hausmädchen Agnes war zu ihrer Mutter gegangen, weil diese sich den Fuß verstaucht hatte. Agnes musste sich um sie kümmern, hatte aber das Kind mitgenommen, damit Bertha nicht zu sehr unter dem Missgeschick leiden musste. Hinnerk war bei der Arbeit, nicht im Büro, sondern bei den Gefangenen. Herr Lexow wurde ruhiger, ließ aber seinen Kopf, wo er war. Er griff nach Berthas Beinen, die in dicken Schuhen steckten, und begann, mit seinen Händen von den Fesseln aufwärts bis unter ihren Rock zu streichen. Er legte sein Gesicht in ihre Schürze und atmete den Fischgeruch ein. Bertha dachte nun nicht mehr an ein kleines Kind. Sie wurde ganz still und hielt den Atem an. Abgerissene Sätze, Liebesworte, erregtes Schluchzen drangen an ihr Ohr, und sie ließ ihn gewähren. Saß nur stumm da, runzelte die Stirn und fühlte, wie ihr Unterleib immer wärmer und schwerer wurde. Und obwohl sie Hinnerk liebte und Herrn Lexow nicht, hatte sie so etwas in fünf Jahren Ehe noch nie gefühlt. Carsten Lexowrichtete sich auf und küsste sie und wusste: Es war nicht der gleiche Mund wie in jener Nacht. Schon wollte er von ihr ablassen, da sah er, wie Tränen ihre Wange hinunterflossen. Nicht nur eine oder zwei, sondern viele, eine ganze Flut. Ihre Schürze war über der Brust schon klatschnass, aber ihre Schultern bewegten sich nicht, und sie gab auch keinen Laut. Ihr Hals war rot und nass und salzig, als er ihn küsste. Sie stand abrupt auf, wischte sich die Hände an der Schürze trocken und ging ins Schlafzimmer, das gegenüber der Küche lag. Dort zog sie die grünen Vorhänge vor die Fenster und band sich die Schürze ab. Sie zog sich die Schuhe aus, den Rock und die Bluse, und legte sich ins Bett. Carsten Lexow zog sich die Hose, das Hemd und die Strümpfe aus und legte alles auf den Boden vor dem Bett. Er kam zu ihr und nahm sie in den Arm, während er an die Nacht im Garten dachte. Hatte er damals die Falsche geliebt und die Richtige geküsst? Oder die Richtige geliebt und die Falsche geküsst? War da vielleicht nicht doch ein Apfelgeschmack zwischen dem Fisch und Salz?
    Doch während der ganzen Zeit, die Carsten Lexow in Berthas Bett verbrachte, rannen ihr die Tränen wie zwei Meeresarme übers Gesicht.
    In derselben Nacht schlief sie auch mit ihrem Mann, der Schwarzbrot mit Krabben und Spiegelei zum Abendessen bekam. In der Küche standen die erdigen Dahlienknollen, im Dämmerschein der Küchenlampe leuchteten sie gelblich. Sie sagte, Herr Lexow sei da gewesen und habe den Korb vorbeigebracht.
    - Herr Lexow, der hat es gut. Ferien. Blumen. Mitten im Krieg.
    Hinnerk schnaubte verächtlich, säbelte sich ein Stück Brot ab und führte es mit der Gabel zum Mund. Berthabeobachtete, wie dabei einige der zarten rosa Krabben vom Brot zurück auf den Teller fielen.

    Neun Monate

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