Der Geschmack von Apfelkernen
älteste zuerst. Sie wusste zwar noch lange, dass Christa zu ihr gehörte, aber der Name sagte ihr nichts mehr. Sie nannte sie erst Inga, später Harriet. Inga war noch eine ganze Zeit Inga, dann wurde auch sie Harriet. Harriet blieb sehr lange Harriet, aber irgendwann, viel später, war selbst Harriet eine Fremde. Doch da war Bertha schon im Heim.
- Wie bei den drei kleinen Schweinchen, sagte Rosmarie.
Ich verstand nicht, was sie meinte.
- Na ja, das erste rennt ins Haus des zweiten, das bricht zusammen, und die beiden rennen, als das zweite Haus zusammenbricht, ins Haus des dritten.
Berthas Haus aus Stein. Und jetzt sollte es meins sein?
Meine Mutter nahm es sich damals sehr zu Herzen, dass ihre Mutter ihren Namen nicht mehr kannte. Vielleicht erschien es ihr ungerecht, dass sie selbst ihre Heimat nicht vergessen konnte, aber ihre Heimat nichts Besseres zu tun hatte, als sie zu vergessen. Inga und Harriet nahmen es gelassener. Inga hielt Berthas Hand und streichelte sie und schaute Bertha lächelnd in die Augen. Das mochte Bertha. Harriet ging mit Bertha auf die Toilette, wischte sie ab, wusch ihr die Hände. Und Bertha sagte Harriet, wie lieb sie sei und wie froh sie, Bertha, sei, dass sie Harriet habe.
Inga machte es nichts aus, Harriet genannt zu werden, aber als Bertha einmal Christa zu ihr sagte, wurde sie böse. Christa war nicht hier. Sie hielt keine Hand. Sie ging nicht mit aufs Klo. Sie hatte einen Mann. Hinnerk hatte sie am meisten geliebt. Manches konnte man niemals verzeihen. Wenn Christa in den Schulferien da war und sich um Bertha kümmerte, war es schwierig für Inga und Harriet, nett und unbefangen zu sein. Wenn Christatraurig und schockiert war über die Verschlechterung von Berthas Gedächtnis, fiel es ihren jüngeren Schwestern schwer, Verständnis zu zeigen. Sie empfanden vielmehr Verachtung. Ihre Schwester hatte ja keine Ahnung, wie schlimm und anstrengend und beängstigend alles in Wirklichkeit war.
Letzten Sonntag, in den frühen Nachmittagsstunden, war Bertha schließlich an einer Sommergrippe gestorben. Ihr Körper hatte einfach vergessen, wie man sich von so einer Krankheit wieder erholte.
Tante Inga hielt ihre Hand. Sie rief nach einer Krankenschwester. Dann telefonierte sie mit Harriet. Diese fuhr sofort zum Heim und sah ihre Mutter noch so, wie sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen, als müsse sie sich auf etwas besinnen. Die Nase ragte lang und spitz aus dem Gesicht. Auf dem weißen Nachttisch stand ein Plastikbecher mit Apfelsaft.
Erst am Abend riefen sie bei Christa an. Meine Mutter legte den Hörer auf und begann zu weinen. Hinterher fragte sie meinen Vater immer und immer wieder:
- Warum haben sie so lange gewartet, bis sie es mir erzählt haben? Warum? Was haben sie sich dabei gedacht? Wie sehr müssen sie mich hassen?
Manches konnte man niemals verzeihen.
Am Grab, als wir der Reihe nach unsere Blumen auf den Eichensarg werfen sollten, blieben die drei Schwestern eng nebeneinander stehen. Christa stand rechts, Inga in der Mitte, Harriet links. Meine Mutter nahm ihre große schwarze Handtasche von der Schulter und öffnete sie. Erst jetzt bemerkte ich, wie sich die Tasche ausbeulte, sie schien prall gefüllt zu sein. Christa trat einenSchritt vor, schaute in die Tasche und zögerte. Sie zog etwas heraus, es war rot und gelb geringelt. Ein Strumpf? Sie warf es in das Erdloch. Dann holte sie den nächsten Strumpf – oder war es ein Topflappen? – aus der Tasche und warf ihn hinterher. Es war ganz still geworden, alle Trauergäste versuchten zu erkennen, was Christa dort machte. Ihre Schwestern traten auch einen Schritt vor und stellten sich neben sie. Mit einer energischen Bewegung drehte Christa schließlich die Tasche um und kippte sie einfach aus. Erst da begriff ich, was sie ihrer Mutter ins Grab schüttete: die Stricksachen aus der Kiste im Kleiderschrank, Berthas Wolle gewordene Gedächtnislücken.
Als die Tasche leer war, knipste meine Mutter sie wieder zu und hängte sie sich umständlich über die Schulter. Ingas rechte Hand griff nach der Hand ihrer älteren Schwester, ihre linke nahm die von Harriet. So standen die drei eine ganze Weile vor dem Erdloch, in dem Bertha nun unter knallbunten Stricksachen ruhte. Jetzt waren sie wieder »Hinnerks staatsche Deerns«. Und sie wussten, dass sie zu dritt immer am stärksten sein würden.
Was war nun mit Tante Inga, der staatschsten Deern von allen? Ich wollte es endlich
Weitere Kostenlose Bücher