Der Geschmack von Apfelkernen
die Hände auf die Augen. Unter meinem Zeigefinger spürte ich die Narbe über meiner Nasenwurzel.
Da fühlte ich seine Finger auf meinen Händen.
- Nicht. Iris, komm her. Was ist los? Hey, du.
Max’ Stimme war weich und warm, genau wie sein Mund.
- Iris, du kannst dir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie gern ich mit dir Sex am See hätte. Ich wage gar nicht erst, dir zu sagen, dass ich auch gerne schon Sex im Hühnerhaus, Sex in deinem Bett, Sex in meinem Badezimmer, Sex im Baumarkt und, Gott steh mir bei, Sex auf dem Friedhof mit dir gehabt hätte.
Ich musste grinsen unter meinen Händen.
- Ah ja?
- Ja!
- Im Baumarkt, hm?
- Ja!
- So mit weißer Farbe, die zwischen meinen Brüsten herunterrinnt?
- Nein. Das war eher die Hühnerhaus-Phantasie. Im Baumarkt sah ich all diese Schrauben und Muttern und Bohrmaschinen und Dübel und –
Ich richtete mich auf und sah, wie Max versuchte, sein Gelächter zu unterdrücken. Vor lauter Anstrengung fing er schon an zu zucken. Als er meinen Blick auffing, platzte er laut heraus. Ich schlug ihm mit der Faust gegen die Brust, er fiel auf den Rücken, lachte weiter. Dabei hatte er meine Arme gepackt und mich mitgezogen, sodass mein nackter Oberkörper schon wieder auf seinem lag. Es war wie ein Stromstoß. Jetzt lachte er nicht mehr.
Ich hätte sofort mit ihm Sex im Freien haben können. Stattdessen stieß er mich fast grob von sich, schüttelte den Kopf und ging schwimmen. Ohne sich umzusehen, kraulte er los. Da stand ich auf, warf mir mein Kleid über und fuhr weg.
Das Rad ließ ich vor der Haustür stehen, ich ging hinein und zog mir die schwarzen Beerdigungssachen an – nach meiner Erfahrung mit dem goldenen Kleid im Baumarkt hielt ich das für klüger. Ich griff meine Tasche und fuhr zum Edeka-Laden. Dort kaufte ich Brot, Milch, Butter, Mandeln, zwei Sorten Käse, Karotten, Tomaten, noch mehr Nussschokolade, Haferflocken und eine große Wassermelone, weil mir so heiß war. Zu Hause tat ich alles in den Kühlschrank, rief in Freiburg an und sprach mit meiner Chefin. Sie kondolierte mir noch einmal und hatteVerständnis dafür, dass die Erbschaftsangelegenheiten noch geklärt werden mussten.
- Tun Sie das so schnell wie möglich, sagte sie und seufzte. Je früher Sie diese Dinge entscheiden, desto besser. Mein Bruder und ich sind uns immer noch nicht einig, obwohl unsere Eltern schon seit Jahren tot sind. Doch, hier ist viel los. Die Semesterferien stehen vor der Tür, aber machen Sie sich keine Sorgen. Es sind genug Leute da, Frau Gerhardt ist aus dem Urlaub zurück. Also bleiben Sie dort so lange, wie Sie müssen. Sie hören sich gar nicht gut an, liebe Frau Berger. Ach ja. Diese Woche rechne ich also nicht mit Ihnen, ja? Ja. Kein Thema. Alles klar. Auf Wiederhören, auf Wiederhören, ciao, Frau Berger.
Wir legten auf. Ich hörte mich nicht gut an? Na klar. Ich war verärgert, verwirrt und gekränkt über Max’ Zurückweisung. Aber was tat ich dagegen? Ich zog mich verschämt zurück. Mit Verachtung stellte ich fest, dass ich auch nicht viel weiter gekommen war als die Frauen der vorherigen Generation. Von wegen Selbstbestimmung. Doch kein Wunder: schließlich stammte ich ja auch von der verklemmtesten der drei Lünschen-Schwestern ab.
Christa hing an Bootshaven, an großen Himmeln über leeren Flächen, am Wind in ihrem braunen Haar, das sie immer noch kurzgeschnitten trug. Bei Storms Gedicht von der grauen Stadt »am grauen Meer« bekam sie nasse Augen und sprach die dritte Strophe mit einer bebenden Stimme, die mir unangenehm war. Wenn ich als Kind und auch später als Teenager an bestimmten Sommerabenden in das Wohnzimmer trat, konnte es passieren, dass meine Mutter dort in der Dämmerung saß. Sie hockte auf der Sofakante, die Hände unter den Oberschenkeln,und schaukelte ruckartig vor und zurück. Den Blick auf den Boden geheftet. Es waren kurze, rasche Bewegungen, kein verträumtes Wiegen. Teile ihres Körpers schienen gegen andere Teile ihres Körpers zu kämpfen: Ihre Beine pressten sich gegeneinander. Die spitzen Knabenknie stießen immer wieder auf ihre Brüste ein. Ihre Zähne bissen sich an der Unterlippe fest. Die Oberschenkel quetschten ihr die Hände ab.
Meine Mutter saß sonst nie herum. Sie arbeitete entweder im Garten, zupfte Unkraut, schnitt Äste, erntete Beeren, hackte, mähte, grub oder pflanzte. Oder sie hängte die Wäsche auf, räumte Regale und Kisten ein und aus, bügelte Laken, Bettbezüge und Handtücher mit der
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