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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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später kam Inga zur Welt. Es gab eines der seltenen, etwas unheimlichen Wintergewitter, bei denen es kirschgroße Eiskugeln hagelte und Blitze durch die Dunkelheit zuckten. Frau Koop, die Bertha bei der Geburt beistand, schwor, dass der Blitz ins Haus geschlagen und am Blitzableiter in die Erde gegangen war.
    - Und wenn wir das Kindlein in die Badewanne gelegt hätten, dann wäre es jetzt tot.
    Und dann fügte sie meistens hinzu:
    - Aber irgendwas hat de Lüttje ja doch noch mitbekommen, arme Deern.
    Wenn Rosmarie dabei war, fragte sie mit etwas hellerer Stimme als sonst:
    - Das arme Wurm, oder?
    Frau Koop schaute sie dann misstrauisch an, wusste aber nicht genau, was sie sagen sollte, und hüllte sich stattdessen in beredtes Schweigen.

    Herr Lexow hörte auf zu reden. Und schaute mich erwartungsvoll an. Ich hörte auf zu träumen und setzte mich benommen auf.
    - Entschuldigung, wie bitte?
    - Ich fragte: Hat sie nie von mir gesprochen?
    - Also, wer jetzt?
    - Bertha.
    - Nein, Herr Lexow, es tut mir leid. Zu mir nicht. Auch später nicht. Na ja.
    - Ja?
    - Ein, zwei Mal, aber nein, ich weiß nicht, also ein, zweiMal hat sie gerufen: »Der Lehrer ist da«, wenn jemand hereinkam. Aber an mehr kann ich mich nicht erinnern.
    Herr Lexow nickte. Und schaute zu Boden.
    Ich stand auf.
    - Vielen Dank, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mir das alles erzählt haben.
    - Na, so viel war es ja eigentlich nicht. Aber gern geschehen. Grüßen Sie bitte Ihre Mutter und Tanten von mir.
    - Oh bitte, bleiben Sie sitzen, ich schiebe einfach nur mein Fahrrad raus und mache die Pforte hinter mir zu.
    - Das ist Hinnerk Lünschens Fahrrad.
    - Sie haben recht. Es ist seines. Es fährt noch ausgezeichnet.
    Herr Lexow nickte dem Fahrrad zu und schloss die Augen.

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    X. Kapitel
    Ich fuhr zurück zum Haus. Langsam musste ich mir darüber klar werden, was mit meinem Erbe geschehen sollte. Vielleicht hätte ich Herrn Lexow besser zuhören sollen, statt dort in seinem Garten vor mich hin zu dösen, aber wer sagte, dass seine Geschichte wahrer war als meine Tagträumerei? Tante Inga war schließlich immer schon eine geheimnisvolle Frau gewesen. Legenden passten zu ihr.
    Wie wahr waren Geschichten, die einem erzählt wurden, und wie wahr die, die ich mir selbst aus Erinnerungen, Vermutungen, Phantasien und heimlich Erlauschtem zusammenreimte? Manchmal wurden erfundene Geschichten im Nachhinein wahr, und manche Geschichten erfanden Wahrheit.
    Die Wahrheit war eng verwandt mit dem Vergessen, das wusste ich, denn Wörterbücher, Enzyklopädien, Kataloge und andere Nachschlagewerke las ich ja noch. Im griechischen Wort für Wahrheit, aletheia , floss versteckt der Unterwelt-Strom Lethe. Wer das Wasser dieses Flusses trank, legte seine Erinnerungen ab wie zuvor seine sterbliche Hülle und bereitete sich so auf sein Leben im Schattenreich vor. Damit war die Wahrheit das Unvergessene. Aber war es sinnvoll, die Wahrheit ausgerechnet dort zu suchen, wo das Vergessen nicht war? Versteckte sich die Wahrheit nicht mit Vorliebe gerade in den Ritzen und Löchern des Gedächtnisses? Mit Wörtern kam ich auch nicht weiter.

    Bertha kannte alle Pflanzen mit Namen. Wenn ich an meine Großmutter dachte, dann sah ich sie im Garten, eine hohe Gestalt, mit staksigen Beinen und breiten Hüften. Ihre schmalen Füße steckten meistens in erstaunlich schicken Schuhen. Nicht weil sie übermäßig eitel war, sondern weil sie vom Dorf, aus der Stadt, von einer Nachbarin zurückkommend nicht ins Haus, sondern immer erst in den Garten ging. Sie trug Schürzen, die man hinten zubinden musste, selten solche, die man vorne knöpfte. Sie hatte einen breiten Mund mit schmalen, ein wenig geschwungenen Lippen. Ihre lange, spitze Nase war etwas gerötet, und die leicht hervorstehenden Augen waren oft nass von Tränen. Sie hatte blaue Augen. Vergissmeinnichtblau.
    Ein bisschen vorgebeugt lief Bertha durch die Beete, den Blick auf die Pflanzen gerichtet, mal bückte sie sich, um Unkraut zu zupfen, aber meistens trug sie die Gartenhacke wie einen Hirtenstab bei sich. Am Ende des Stiels war eine Art Steigbügel aus Eisen befestigt. Den schlug sie in die Erde und schüttelte den Stab kräftig mit beiden Armen. Es sah aus, als würde nicht sie den Stab, sondern der Stab sie durchrütteln. Als wäre sie aus Versehen in einen Stromkreis geraten. Doch zuckten hier nur metallblaue Libellen durch die flirrende Luft.
    Mitten im Garten war es am heißesten, nichts warf Schatten. Bertha

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