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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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schien dies kaum zu merken. Nur manchmal hielt sie inne und streifte sich mit einer unbewussten, anmutigen Handbewegung die feuchten Haare vom Nacken hinauf zurück in ihren Haarknoten.
    Je kürzer ihr Gedächtnis wurde, desto kürzer schnitt man ihr die Haare. Berthas Hände jedoch behielten bis zu ihrem Tod die Bewegungen einer Frau mit langem Haar.
    Irgendwann begann meine Großmutter mit ihren nächtlichen Wanderungen durch den Garten. Das war, als sie anfing, die Zeit zu vergessen. Die Uhr konnte sie noch lange lesen, aber die Zeit sagte ihr nichts mehr. Im Sommer zog sie drei Unterhemden übereinander und noch wollene Socken an und wurde dann ganz wild, weil sie so schwitzte. Damals zog sie sich die Socken noch über die Füße. Ungefähr zur gleichen Zeit verlor sie das Gefühl für Tag und Nacht. Sie stand nachts auf und wanderte umher. Früher, als Hinnerk noch lebte, war sie auch schon um diese Zeit durch das Haus gewandert. Sie tat es damals, weil sie nicht schlafen konnte. Später jedoch lief sie draußen herum, weil ihr gar nicht eingefallen wäre, dass sie hätte schlafen sollen. Harriet merkte es meistens, aber nicht immer, wenn Bertha nachts losging. Doch sobald sie es entdeckte, stand sie stöhnend auf, warf sich ihren Bademantel über, schlüpfte in ihre Clogs, die schon neben ihrem Bett bereitstanden, und ging hinaus. In diesen Nächten dachte Harriet, dass sie das nicht mehr lange machen konnte. Sie hatte einen Beruf. Sie hatte ein halbwüchsiges Kind. An den offenen Türen konnte Harriet erkennen, welchen Weg Bertha genommen hatte, meistens hinten hinaus, durch das Scheunentor auf die Einfahrt und in den Garten. Mal entdeckte sie ihre Mutter, wie sie die Beete goss – meistens mit der alten Blechtasse, in der sie früher den Samen der vertrockneten Ringelblumen aufbewahrt hatte. Mal kniete Bertha zwischen den Beeten und zupfte Unkraut aus, aber am liebsten pflückte sie Blumen. Sie pflückte nicht den Stängel mit der Blüte ab, sondern nur die Blüte. Bei den großen Dolden riss sie die Blütenblätter ab, die sie in der Faust hielt, bis sie nicht mehr zuging. Wenn Harriet zu ihrer Mutter trat, streckte diese ihr die Hand mit den zerquetschten Blüten und Blütenblättern entgegen und fragte, wo sie das hintun könne.In vier kalten Vorfrühlingsnächten schaffte es Bertha, die Blüten eines ganzen blauweißen Stiefmütterchenbeetes abzureißen. Das Innere ihrer großen Hände war noch wochenlang violett verfärbt. Als junges Mädchen hatte sie mit ihrer Schwester Anna die verwelkten Blüten der Rosen abgeknipst, damit sie keine Hagebutten bekamen und nochmal blühten. Bertha wusste nun nicht mehr, wie alt sie war. Sie war so alt, wie sie sich fühlte, und das konnte acht sein, wenn sie Harriet Anna nannte oder vielleicht dreißig, wenn sie von ihrem toten Ehemann sprach und uns fragte, ob er schon aus dem Büro gekommen war. Wer die Zeit vergaß, hörte auf zu altern. Das Vergessen schlug die Zeit, die Feindin des Gedächtnisses. Denn schließlich heilte die Zeit alle Wunden nur, indem sie sich mit dem Vergessen verbündete.

    Ich stand am Gartenzaun und tastete nach meiner Stirn. Ich musste an andere Wunden denken. Jahrelang hatte ich mich geweigert, das zu tun. Die Wunden kamen frei Haus, die hatte ich mitgeerbt. Und ich musste sie mir wenigstens einmal ansehen, bevor ich wieder das Pflaster der Zeit draufkleben durfte.

    Ein langer Streifen Leukoplast hielt hinterm Rücken die Hände zusammen, wenn man das Spiel spielte, das sich Rosmarie ausgedacht hatte und das wir »Friss oder stirb« nannten. Es wurde im Garten gespielt und zwar im hinteren Teil, der vom Haus aus nicht einzusehen war, zwischen den weißen Johannisbeerbüschen und dem Brombeerdickicht am Ende des Grundstücks. Dort stand auch der große Komposthaufen, eigentlich waren es zwei, einer voller Erde, der andere mit Schalen, vergilbten Kohlblättern und braunem, abgemähtem Gras. Diehaarigen Blätter und fleischigen Stiele von Kürbis, Gurke und Zucchini schlängelten sich über den Boden. Bertha hatte Zucchini im Garten, weil sie gern neue Pflanzen ausprobierte, und sie war begeistert von der Geschwindigkeit, mit der die Zucchini wuchsen. Nur was sie mit den gewaltigen Früchten anfangen sollte, war ihr nicht klar. Beim Kochen zerfielen sie sofort, und roh schmeckten sie überhaupt nicht. Also wuchsen sie und wuchsen und wuchsen, bis es im Sommer dort hinten aussah wie das verlassene Schlachtfeld aus einer früheren Zeit, in

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