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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Rosmaries Tod. Es hatte zwei Tage lang ununterbrochen geregnet, doch am Nachmittag platzte die Sonne durch die Wolken. Wie befreit rannten Rosmarie und ich hinaus. Da kam Mira sehr langsam die Einfahrt zum Haus hinunter, wir hatten siedie letzten beiden Tage nicht gesehen. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die eine Linde. Sie gähnte und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Mit geschlossenen Augen sagte sie:
    - Wir spielen »Friss oder stirb«.
    Eigentlich bestimmte Rosmarie die Spiele, aber die zuckte nur mit den Schultern und schob mit beiden Handrücken ihre langen roten Haare zurück.
    - Ich wäre zwar lieber zur Schleuse gefahren, aber von mir aus. Warum nicht.
    Ich wäre auch lieber zur Schleuse gefahren. Wir waren so lange drinnen gewesen, da hätte mir eine Wettfahrt über die Weiden gut gefallen. Aber noch besser gefiel mir, dass Rosmarie diesmal nicht bestimmte, und so sagte ich:
    - Ja, wir spielen, was Mira will.
    Rosmarie zuckte noch einmal die Schultern, drehte sich um und ging zum Garten, sie trug das Goldene, und es schimmerte in der Sonne, wenn sie sich bewegte. Ich lief hinterher. Mira folgte uns mit einem gewissen Abstand. Der Garten dampfte. Auf den Blättern von Gurke und Kürbis lagen große Linsen aus Regenwasser, durch die man ihre Adern und Haare vergrößert betrachten konnte. Hinter den Johannisbeerbüschen roch es nach Erde und Katzendreck.
    - Habt ihr das Tuch und das Pflaster?
    Rosmarie hatte sich umgedreht und musterte Mira und mich mit ihren blassen Augen. Mira schaute zurück, es war etwas Herausforderndes in ihrem Blick, das ich nicht verstand. Ihre Wimpern waren noch stärker getuscht als sonst, und ihr Lidstrich war noch breiter. Dick und schwer klebte die dunkle Tusche an den gebogenen Härchen. Wenn sie die Augen bewegte, sah es aus, als liefen ihr zwei schwarze Raupen über das Gesicht.
    - Nein, haben wir nicht.
    Miras Haut war an jenem Tag wie Asche und ihre Stimme auch. Nur ihre Augen schienen zu leben, und die schwarzen Raupen wanden sich lautlos.
    - Ich hol’s schon, sagte ich und rannte hinein, die Treppe hinauf, und holte das Leukoplast, viel war nicht mehr drauf, aber es würde reichen. Ich schloss den großen Schrank auf, griff nach Hinnerks Tuch, das über einer Krawattenstange an der Türinnenseite hing, raffte meine hellblauen Tüllröcke und polterte wieder die Treppe zurück in den Garten.
    Mira und Rosmarie hatten sich nicht von der Stelle bewegt, Rosmarie redete auf Mira ein, diese blickte zu Boden. Doch als sie mich kommen sahen, wandten sich beide gleichzeitig voneinander ab und gingen weiter. Erst bei den Johannisbeerbüschen holte ich sie ein.
    - Hier sind die Sachen.
    - Möchtest du anfangen, Iris? fragte Rosmarie.
    - Nein, diesmal fange ich an, sagte Mira.
    Ich zuckte mit den Schultern und reichte Mira den Schal, sie band ihn sich um und verschränkte die Handgelenke hinterm Rücken. Ich klebte einen braunen Leukoplaststreifen um Miras Handgelenke, und als ich ihn nicht sofort abreißen konnte, kam Rosmarie dazu, bückte sich schnell und biss ihn durch. Mira sagte nichts.
    Wir knieten uns hinter die Büsche in den Matsch.
    - Egal, sagte Rosmarie, wir waschen die Kleider, bevor die Nornen was merken.
    Die Nornen, das waren natürlich Christa, Inga und Harriet. Wir hatten die Kleider schon öfter heimlich gewaschen. Rosmarie und ich erhoben uns wieder und gingen los, um etwas zum Essen zu suchen. Ich riss ein Blatt vom Sauerampfer ab und zeigte es Rosmarie. Sienickte und hielt ihrerseits ein Blatt hoch: Suppengrün. So nannte es jedenfalls unsere Großmutter, es roch nach Suppe und nach Maggi, und wenn man es zwischen den Händen zerrieb, wurde man den Geruch tagelang nicht los. Ich fand Suppengrün für den Anfang eigentlich ein bisschen unbarmherzig, aber ich nickte und steckte mir den Sauerampfer selbst in den Mund.
    Als wir zurückkamen, hockte Mira auf der Erde und schien wie versteinert.
    Ich sagte:
    - Also gut, Mira, du hast es so gewollt. Friss oder stirb. Mund auf. Gibst du es ihr, Rosmarie?
    Rosmarie knetete das Blatt noch einmal kräftig durch. Mira musste es schon gerochen haben, bevor es nur in die Nähe ihres Gesichts kam. Sie öffnete den Mund, stöhnte laut auf und übergab sich. Ihr Oberkörper wurde von der Gewalt dieses Ausbruchs mit einem Ruck nach vorne geworfen.
    - O Gott, Mira!
    Ich war so erschrocken, dass ich nicht daran dachte, das Pflaster und das Tuch zu lösen.
    - Ist schon gut. Jetzt ist mir besser. Rosmarie weiß, dass ich

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