Der Geschmack von Apfelkernen
Liebstöckel nicht mag.
Ich wusste nicht, dass Suppengrün dasselbe war wie Liebstöckel, und ich nahm an, dass Rosmarie das auch nicht wusste. Rosmarie schwieg. Sie hatte sich hinter Mira gekniet und beide Arme um sie geschlungen. Ihr Kinn lag auf Miras Schulter. Sie hatte die Augen geschlossen. Mira hatte noch immer die Augen verbunden. Es roch nach Erbrochenem.
- Na gut, kommt, wir fahren zur Schleuse.
Ich war mir sicher, die beiden würden meinen Vorschlag annehmen. Aber Mira schüttelte langsam den Kopf.
- Ich bin nochmal dran, sagte sie. Das galt nicht, ich hatte es ja noch nicht auf der Zunge.
Da küsste Rosmarie Mira auf den Mund. Der Kuss war mir unangenehm. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie sich küssten, und außerdem dachte ich daran, dass Mira gerade fürchterlich gespuckt hatte.
- Ihr seid verrückt, sagte ich. Es wurde mir unheimlich hier im Garten, wobei ich nicht wusste, ob wegen des Spiels oder wegen des Kusses.
Rosmarie führte Mira ein paar Meter weiter und half ihr, sich wieder zu setzen. Dann ging sie auf die Suche, aber nicht sehr weit. Sie bückte sich rasch, und als sie sich wieder aufrichtete, sah ich, dass sie eine Zucchini gepflückt hatte, keine von den Keulen, sondern eine von den kleinen. Ein Stückchen Zucchini war in Ordnung, fand ich, besonders wenn sie klein und frisch war. Aber Rosmarie brach kein Stück ab, sondern murmelte:
- Friss es oder vergiss es, meine Süße.
Mira lächelte und öffnete den Mund. Rosmarie ging in die Hocke ganz nah vor Miras Gesicht. Sie knipste die Blüte von der regennassen Frucht und legte das Ende in Miras Mund. Und dann zischte sie:
- Das ist der Schwanz von deinem Liebhaber.
Miras Körper zuckte kurz zurück. Dann wurde sie ganz ruhig, brach mit einem kräftigen Biss die Spitze der Zucchini ab und spuckte sie Rosmarie blind ins Gesicht. Sie traf Rosmarie voll auf die Oberlippe. Dann sagte Mira:
- Du hast verloren, Rosmarie.
Mira zerrte am Leukoplast, es riss. Sie stand auf, zog sich den weißen Schal vom Kopf und warf ihn auf den Komposthaufen. Und dann ging sie.
Rosmarie und ich starrten ihr nach.
- Sag mal, was sollte das denn? fragte ich. Rosmarie wandte sich zu mir, das Gesicht verzerrt. Sie schrie:
- Lass mich bloß in Ruhe, du dummes, dummes Wesen!
- Gern, antwortete ich, ich spiele sowieso nicht mit Leuten, die nicht verlieren können.
Das hatte ich nur gesagt, weil ich gemerkt hatte, dass Miras Satz Rosmarie getroffen hatte. Verstanden hatte ich ihn nicht. Rosmarie kam mit zwei langen Schritten zu mir herüber und gab mir eine Ohrfeige.
- Ich hasse dich.
- Würmer können gar nicht hassen.
Ich rannte ins Haus.
Rosmarie aß nicht mit uns zu Abend. Erst als ich fast schon im Bett war, kam sie in unser Zimmer und tat, als sei nichts gewesen. Ich war immer noch böse auf sie. Doch ich setzte mich zu ihr auf die Fensterbank, und sie erzählte mir das mit Mira. Und dann kam die Nacht.
Rosmarie und ich schliefen immer in dem alten Ehebett, wenn ich im Sommer da war. Das war lustig und gruselig, wir erzählten uns unsere Träume, schwatzten und kicherten. Rosmarie sprach über Dinge aus der Schule, über Mira und über Jungs, in die sie verliebt war. Oft redete sie über ihren Vater, einen rothaarigen Hünen aus dem Norden. Ein Polarforscher, ein Pirat auf dem Eismeer, vielleicht schon tot, für immer eingefroren, ein silbergrauer Himmel sich spiegelnd in starren Augen, und andere Geschichten dieser Art. Mit Harriet sprach sie nie über ihren Vater, und Harriet fing auch nicht von ihm an.
Im Bett dachten Rosmarie und ich uns Sprachen aus, Geheimsprachen, Nachtsprachen, eine Zeit lang sagten wir alles rückwärts. Das ging erst sehr schleppend, doch nach ein paar Tagen waren wir richtig in Übung undkonnten uns immerhin ein paar kurze Sätze zuwerfen. Die Namen von allen Leuten, die wir kannten, drehten wir um. Ich war Siri, sie war Eiramsor, und dann war da natürlich noch Arim. Irgendwann fand Rosmarie, dass das Gegenteil von einer Sache die Sache selbst, bloß rückwärts, sein müsse. Also nannten wir das Essen, und vor allem die Art zu essen, wie ich sie zu Hause mit meinen Büchern allein weiterbetrieb, »Neztok«. Und tatsächlich war dies genau das Gegenteil von essen – nur eben rückwärts.
Als Rosmarie, Mira und ich früher einmal auf den breiten Fensterbänken in Rosmaries Zimmer hockten und in den Regen hinausblickten, sagte Rosmarie:
- Wusstet ihr, dass ich mir Mira einverleibt habe?
Mira schaute sie unter
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