Der Geschmack von Glück (German Edition)
man doch, um fleißig zu studieren und dann einen guten Job zu bekommen, damit man ordentlich Geld verdienen konnte. Er aber hatte schon jede Menge Geld, genug fürs ganze Leben. Und lernen konnte er überall, oder etwa nicht?
Doch wenn er ganz ehrlich war, steckte noch mehr dahinter. Die Art Studium, die er sich immer ausgemalt hatte – zu Seminaren in efeuumrankten Gemäuern eilen, im Winter schneebedeckte Stufen hinaufsteigen, bei Footballspielen auf Holztribünen hocken, stundenlang mit leuchtenden Augen über Philosophie debattieren –, war von seinem jetzigen Leben himmelweit entfernt, und er fürchtete, es sei ihm vollkommen unmöglich geworden, sich in eine solche Szenerie einzufügen. Auf keinen Fall wollte er so ein Promi-Student werden, der sich zwar halbwegs Mühe gab, ganz normal zu sein, obwohl ihm Kameras folgten und ihn Kommilitonen anglotzten, der aber schließlich doch die Abschlussklausuren verpasste, weil er nach Vancouver jetten musste, um einen Independentfilm zu drehen. Graham hatte keinerlei Interesse, sich noch mehr zum Affen zu machen als jetzt schon.
Er wusste, seine Eltern hofften im Stillen, er werde es sich noch anders überlegen, und er wollte sie nur ungern enttäuschen. Doch er war sich seiner Sache sicher. Das war einer der vielen Gründe, warum sie einander nicht mehr verstanden, wieso sie keine richtige Familie mehr waren, eher drei Leute, die eine Zeit lang zusammengewohnt hatten.
Was sie brauchten, dachte Graham, als er vor Ellies Haus stand, war ein altmodischer Familienurlaub. Sie brauchten gemeinsame Mahlzeiten und gemeinsame Erlebnisse, und das so weit von Kalifornien weg wie möglich. Er war erst ein paar Tage hier und fühlte sich schon wie ein ganz anderer Mensch. Vielleicht würde Henley auch seine Eltern verzaubern.
Doch als die Tür aufging und Ellie erschien – die langen Haare noch feucht vom Duschen, wunderschön in ihrem hellgrünen Sommerkleid –, da wurde ihm klar, dass es nicht an Henley lag.
Sondern an ihr.
Er beugte sich vor, um sie zu küssen – es kam ihm ganz natürlich vor, wie Schuhezubinden oder Treppensteigen, etwas, das man, ohne nachzudenken, tut –, und er war nur noch zwei Handbreit entfernt, als er unsicher zurückzuckte und wie aus einem Nebel aufschreckte.
Sie waren noch gar nicht beim ersten Kuss angelangt, aber er beugte sich schon vor, als sei es bereits ein Ritual, als hätten sie sich schon tausend Mal geküsst. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder aufgerichtet hatte, und als er das Gleichgewicht wiederfand, drückte er die Schultern durch. Er wollte hellwach sein, wenn er Ellie zum ersten Mal küsste.
Sie sah ihn leicht verwirrt an, und Graham konnte nicht erkennen, was sie dachte. Hoffentlich hatte sie nicht gemerkt, was er gerade vorgehabt hatte.
Hoffentlich dachte sie bloß, er habe das Gleichgewicht verloren.
»Hi«, sagte er verlegen grinsend.
»Komm rein«, sagte sie und wirkte selbst etwas unsicher.
Sie schob ihn in den Flur, der nach Zitronenputzmittel roch, und Graham bückte sich, um Bagel zu streicheln, der seine Schuhe geschäftsmäßig beschnüffelte. Dann folgte er Ellie in die schwach beleuchtete Küche, wo der Tisch für zwei gedeckt war und der Duft von Geschirrspülmittel noch in der Luft hing. Abgesehen davon nahm Graham kaum etwas wahr; seine Augen hingen an Ellies grünem Kleid, während sie mit verlegenem Blick zwischen Küchenschränken und Kühlschrank hin und her lief.
»Wir haben fast nie etwas Besonderes hier«, sagte sie, »aber ich hatte gedacht, es wäre wenigstens Tiefkühlpizza oder so was da.«
»Willst du damit etwa sagen«, neckte Graham, »dass es keinen Hummer gibt?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Sehr witzig.«
»Alles bestens«, sagte er und stellte sich neben sie, um die Vorräte in der Speisekammer in Augenschein zu nehmen. Er zog eine fast leere Schachtel Kräcker und eine Dose Thunfisch aus dem Regal. »Wir machen ein Smörgåsbord. Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon.«
»Entschuldige«, sagte sie und lehnte sich gegen die Spüle. »Wir hätten doch essen gehen sollen. Ich fasse es nicht, dass ich dir alte Kräcker anbiete.«
»Machst du Witze?« Er zeigte mit großer Geste um sich. »Nicht jeder kommt in den Genuss, im Chez O’Neill zu speisen. Ich habe gehört, es ist eins der exklusivsten Restaurants in ganz Maine.«
»Das stimmt allerdings«, sagte sie. »Unsere Gäste sind ausschließlich Filmstars.«
Sie durchsuchten den Kühlschrank,
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