Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
küsst mich so leidenschaftlich, dass alles in mir mitternachtsblau wird, und raunt: »Und weißt du, was ich von Anfang an fand?«
Ich hänge dem Geschmack seiner Lippen nach, spüre mein verwirrendes Begehren und kann mich im ersten Moment gar nicht auf seine Frage konzentrieren. Doch als ich wieder klar denken kann, möchte ich es natürlich wissen.
»Dass du total hübsch bist, und seit du die Haare offen trägst, bist du sogar noch hübscher«, sagt Mattis und wickelt sich eine meiner Strähnen um den Zeigefinger. »Aber das ist gar nicht das Entscheidende.«
»Sondern?« Ich bin begierig auf weitere Komplimente von ihm und versuche gar nicht erst, das zu verbergen.
Mattis bringt ein wenig Abstand zwischen uns. Er lässt die Strähne los, streicht sie mir hinters Ohr und mustert mich nachdenklich.
»Das, was mir als Erstes an dir aufgefallen ist, ist diese … Wie soll ich es nennen? Innerlichkeit, vielleicht. Du wirkst auf mich, als ob du genau in dich hineinhorchen würdest, ständig. Als wäre da sehr viel mehr in dir als in anderen Menschen. Und das fasziniert mich.«
Die Alarmglocken in meinem Kopf fangen an zu schrillen.
Er kann also tatsächlich in meine Seele schauen.
Er sieht es mir an?!
Dass ich so oft mit meinen geheimen Farben beschäftigt bin … Dass ich ihnen nicht ausweichen kann, nicht in der Schule, nicht am Weiher, nicht in Mattis’ Armen … Dass ich auf die Farben achten muss, achten will, weil sie mir meine Gefühle deutlicher machen, weil sie meine Gefühle sind … Das alles ahnt er?
Aber wie viel davon kann er wirklich wissen?
Du könntest es ihm erzählen, flüstert eine sehnsüchtige Stimme in mir. Dann müsstest du endlich nicht mehr allein damit fertigwerden. Keine silberne, eiskalte Einsamkeit mehr. Nie wieder, Sophie!
Ich zögere, fühle mich überfahren von der unvermuteten Chance, mich hier und jetzt einem Menschen zu offenbaren. Einem Jungen, der mich sehr mag. Der einfühlsam ist. Der es vielleicht akzeptieren würde. Der mir damit vielleicht, ganz vielleicht die Angst vor der Psychiatrie nehmen könnte.
Lockend fügt die Stimme hinzu: Wenn es jemand versteht, dann er.
Hoffnung regt sich in mir, elfenbeinfarben und zart. Ich schaue Mattis in die schönen, schräg stehenden Augen, sehe die Verliebtheit darin, und in diesem Moment bricht etwas Hartes, Verkrustetes in mir auf. Das Elfenbein mischt sich mit dem süßen Sahneeis-Weiß des Vertrauens, und ich möchte nur noch eines: meine Maske abwerfen und mich Mattis zeigen, schutzlos und verletzlich und mit allem, was mich ausmacht.
Augenblicklich wehre ich mich dagegen.
Panisch pfeife ich das Geständnis zurück, das mir schon auf der Zunge liegt, sperre mich gegen das Weiß und klammere mich stattdessen an das, was ich gewöhnt bin: Leugnen. Jetzt nur nicht unvorsichtig werden, hämmere ich mir ein, nur nicht die altbekannten Pfade verlassen! Um Gottes willen nichts tun, was ich später unter Garantie bereuen werde! So oft haben meine Eltern mir eingebläut, dass farbige Gefühle etwas Gefährliches sind, so eindringlich haben sie mir geraten, sie zu unterdrücken oder zumindest zu verbergen, dass ich jetzt nicht einfach umschalten kann. Nicht umschalten darf .
Es geht nicht, und wenn ich es noch so sehr möchte.
Ich habe nicht genug Mut.
Die Enttäuschung über mich selbst legt sich bleigrau über meinen inneren Monitor. Doch ich ignoriere sie ebenso wie das schwächer werdende Weiß, rette mich Mattis gegenüber in ein Mona-Lisa-Lächeln, hinter dem er vermuten kann, was er will, und wechsele kurzerhand das Thema.
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass du zum Bogenschießen gehst.« Ich deute auf den Langbogen und den Köcher mit den Holzpfeilen, und meine Hand zittert nur ein kleines bisschen.
Mattis sieht mir noch einen Augenblick lang forschend in die Augen, dann akzeptiert er meine Ausflucht und lässt mich los. Er geht zum Kleiderschrank, greift nach dem Bogen und streicht über das glatte Holz.
»Zum Bogenschießen gehe ich fast noch lieber als zum Schwimmen. Willst du’s auch mal probieren? Dann nehme ich dich mit.«
Ich hebe abwehrend die Hände. »Oh, nein, nein, nein, das ist nichts für mich. Schon beim Dart bin ich immer die Schlechteste! Ich treffe nie.«
»Ich könnte es dir doch beibringen.«
»Ich fürchte, da ist Hopfen und Malz verloren.«
Mattis sieht enttäuscht aus.
»Ich möchte trotzdem mitkommen«, überlege ich, froh, mich nicht mehr mit meinem Innenleben beschäftigen zu
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