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Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)

Titel: Der Geschmack von Sommerregen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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nächsten Augenblick fürchte ich auch schon, zu weit gegangen zu sein. Schließlich bin ich nicht seine Sozialpädagogin, sondern seine brandneue Freundin! Sollte ich nicht so was sagen wie: »Cooles Zimmer, und wie liegt es sich so auf diesem einladenden Bett?«
    Ich bin sicher, Vivian würde genau das von sich geben. Und ich bin sicher, Typen wie Noah würden genau das erwarten. Meine Bemerkung hingegen würde sie bloß zu einem verächtlichen Lachen reizen.
    Mattis lacht jedoch nicht. Er zieht mich in seine Arme und küsst mich (was mir als Reaktion äußerst gut gefällt), und dann sagt er: »Mein Zimmer ist der perfekte Rückzugsort. Das ist mir wichtig. Und jetzt darfst du gerne alles unter die Lupe nehmen, Sophie.«
    Aber das tue ich nicht. Ich streiche ihm mit beiden Händen die Haare aus der Stirn und spreche die Frage aus, die mir beharrlich im Kopf herumspukt.
    »Warum hat das so eine große Bedeutung für dich, Mattis? Allein zu sein, dich zurückzuziehen, Ruhe zu haben. Ist es … also, versteh mich da nicht falsch, aber … hat das einen bestimmten Grund? Ist es eine Art … Veranlagung?«
    Mattis zieht die Augenbrauen hoch. »Du willst wissen, ob ich ein Psycho bin.«
    Mir wird heiß, und ich rudere hastig zurück. »Nein, nein, natürlich kein Psycho , aber, äh …«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagt er fest. »Ich mag Menschen und bin auch gerne mit ihnen zusammen. Sogar Partys mag ich – ab und zu. Es ist nur … Wenn ich irgendwo war, wo es laut ist, mit vielen neuen Leuten, oder den ganzen Tag in der Schule, oder … na ja, in anstrengenden Situationen, dann habe ich danach gerne Stille um mich. Das brauche ich irgendwie. Darum ist mein Zimmer auch nicht quietschbunt wie der Rest des Hauses, in dem meine Mutter sich ausgetobt hat. Sondern weiß.«
    »Ach, so ist das«, murmele ich, obwohl ich gar nichts kapiere. Ein Junge, der nicht auf dröhnende Bässe und Vierundzwanzig-Stunden-Berieselung durch Medien aller Art steht, ist mir schlicht noch nicht untergekommen. Okay, Leon ist auch ein netter Kerl, der es bestimmt mal ein paar Stunden ohne äußere Reize aushalten würde. Aber freiwillig die Stille suchen? Zugeben, dass man Zeit mit sich allein braucht? Das, dachte ich immer, ist den wenigen vorbehalten, die sich nach einem Leben hinter Klostermauern sehnen.
    Unsicher fragt Mattis: »Das ist nicht das, was du von mir erwartet hast, oder?«
    Er ist ein bisschen blass um die Nase, und in diesem Moment begreife ich, dass er – der lässige, superattraktive Mattis, der neue Star unseres Gymnasiums, der heimliche Schwarm aller Elftklässlerinnen – Angst hat.
    Davor, dass ich ihn ablehne, nachdem er sich mir so weit geöffnet hat. Davor, dass ich erkenne, wie er wirklich tickt, und dass es mir nicht gefällt. Und da ich selbst unter genau denselben Ängsten leide, verstehe ich Mattis nur allzu gut.
    Seelenverwandt, schießt es mir durch den Kopf.
    Doch diesem romantischen Gedanken folgt sofort die bittere Erkenntnis, dass Mattis und ich keineswegs das gleiche Absonderlichkeitsniveau teilen. Mattis ist vollkommen, jedenfalls in meinen Augen, und daran ändert sein Bedürfnis nach Stille überhaupt nichts. Ich jedoch schramme, will man meinen Eltern glauben, stets gefährlich nah am Irrsinn vorbei.
    Nicht er ist der Psycho. Sondern ich.
    Mattis wartet auf meine Antwort, zupft an seiner Unterlippe, kratzt sich nervös am Arm. Meine Bitterkeit wird von aprikosenfarbenen Wellen der Zärtlichkeit verdrängt, vom überwältigenden Bedürfnis, Mattis zu beruhigen, ihm zu versichern, dass es nichts an ihm gibt, was mich stört, und schon gar nicht die Tatsache, dass er kein P1-Partylöwe ist, wie Bernice vermutet hatte.
    Also sage ich sanft: »Du bist perfekt für mich, Mattis.«
    Ich schlinge die Arme um seinen Hals. »Das mit der Stille ist ungewöhnlich, aber das macht doch nichts. Im Gegenteil! Was meinst du, warum ich mich in dich verliebt habe? Nur weil du so gut aussiehst? Weißt du, dieses Zurückgezogene, das macht dich sogar noch attraktiver. Das fand ich von Anfang an total anziehend, glaub mir.«
    Ich bin dermaßen bemüht, ihm seine Sorgen zu nehmen, dass ich erst jetzt merke, was da aus mir hervorsprudelt: eine hemmungslose Liebeserklärung. Mist, ist es dafür nicht ein bisschen zu früh? Abrupt verstumme ich, und mein inneres Pink fährt seine Stacheln aus.
    Doch Mattis wirkt gar nicht abgeschreckt von meinem Gefühlsausbruch, sondern einfach nur erleichtert. Er lächelt mein Pink weg,

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