Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Gewissen, spricht von Verrat und enttäuschter Elternliebe. Und treibt mich damit zuverlässig aus dem Haus, dorthin, wo ich mich so viel wohler fühle als bei meiner eigenen Familie.
Ich frage mich, was wohl der Grund dafür ist, dass ich bei den Bendings leichter atme, befreiter lache und in manchen Momenten sogar meinen inneren Monitor akzeptiere. Liegt das bloß an Mattis? Oder auch an Nathalies Fröhlichkeit? An den vielen Farben? Die sind in dem alten Bauernhaus so allgegenwärtig, dass mir meine leuchtende, glitzernde, funkensprühende Innenwelt nahezu normal vorkommt.
Bei uns daheim sind die Wände weiß, die Möbel kieferbraun und die Teppiche beige. Schmerzhaft wird mir klar, dass ich in der blassen Umgebung meines Zuhauses ziemlich fehl am Platze bin – und es wahrscheinlich immer war.
Ich seufze und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Viertel nach neun, immer noch zu früh. Vielleicht sollte ich trotzdem schon losgehen. Ich könnte ja unterwegs ein bisschen fotografieren. Meine Kamera nehme ich sowieso mit, da Mattis und ich heute endlich zum Bogenschießen gehen wollen. Schließlich haben wir schon Samstag, und ich möchte die Fotos von Mattis unbedingt noch am Computer bearbeiten, bevor am Montag die Schule wieder losgeht.
Schule.
Bei dem Gedanken daran wird mir mulmig, und ein durchsichtiger, schmutziger Film überzieht meinen inneren Monitor. Ich kann mir das Getuschel und die ätzenden Kommentare der anderen so lebhaft vorstellen: Was, die graue Maus ist mit dem sexy Typen zusammen? Wie hat sie das denn geschafft? – Ach, bestimmt nutzt er sie nur aus. – Genau wie Noah. Schnelle Nummer und tschüss. – Wusstest du eigentlich, dass das damals eine Wette war? – Nee, echt? Na ja, ich hatte mir schon so was in der Art gedacht.
Ich schüttele heftig den Kopf, um die flüsternden Stimmen aus meiner Fantasie zu vertreiben. Was die anderen sagen oder nicht sagen, kann mir völlig wurscht sein. Noah ist Vergangenheit, in der Gegenwart zählt nur Mattis. Und der würde niemals mit mir schlafen, nur um eine beschissene Wette zu gewinnen. Er würde mir danach auch keine DVD schenken, damit ich mir anschauen kann, wie … Nein. Nein!
Abrupt stoße ich den Schreibtischstuhl zurück und stehe auf. Schluss mit den trüben Gedanken, Kamera umhängen und raus aus dem Haus! Die Schule fängt früh genug wieder an und mit ihr eine Realität, die ich in diesen verzauberten Pfingstferien erfolgreich verdrängt habe. Eine Realität, in der leider auch Menschen wie Noah, Vivian und Bernice vorkommen.
Dieses Wochenende aber, sage ich mir entschlossen, gehört noch mir und Mattis allein. Und ich werde meine Liebes-Luftblase keine Sekunde eher verlassen als nötig.
Der Bogenschießplatz liegt mitten im Wald.
Auf einer von Fichten umgebenen, langgestreckten Lichtung stehen in regelmäßigen Abständen Zielscheiben aus gepresstem Stroh. Am Rande der Lichtung duckt sich unter mächtigen Zweigen eine Hütte. Dunst steigt aus der feuchten Wiese auf und verleiht dem Platz eine beinah gespenstische Atmosphäre.
Ich fröstele und schlinge mir die Arme um den Oberkörper.
»Die Zielscheibe dort hinten steht ja ganz schön weit weg«, sage ich munter, um das unwirkliche Gefühl zu vertreiben. »Kann man die überhaupt noch treffen?«
»Das sind siebzig Meter«, sagt Mattis. »Und klar kann man die Scheibe treffen. Wenn auch nicht mit den Dartpfeilen aus dem Pub.« Er lacht und legt mir den Arm um die Schultern.
Ich schmiege mich an ihn, atme seinen Duft ein, und sobald ich ihn rieche und seine Wärme fühle, empfinde ich nichts mehr als gespenstisch. Im Gegenteil, jetzt kommen mir der Dunst, die düsteren Fichten und die stille Einsamkeit in diesem Wald äußerst romantisch vor. Fast magisch.
Magisch … Als Nächstes erwarte ich dann wohl, denke ich spöttisch, dass Mattis sich mir als sexy Vampir, Werwolf oder gefallener Engel zu erkennen gibt. Ich grinse über mich selbst.
Mein Vampir/Werwolf/gefallener Engel stapft mit mir durch das feuchte Gras zur Hütte hinüber, schließt auf und holt aus einer staubigen Schublade Armschutz und Fingertab. Ich beobachte ihn, während er sich beides anlegt, und bin in Gedanken bereits bei den Fotos, die ich von ihm schießen will. Wie sehe ich Mattis in dieser Umgebung? Wie möchte ich ihn abbilden?
Auf jeden Fall nicht als Fantasiewesen, sinniere ich, das ist denn doch zu albern. Eher als einen modernen Robin Hood. Einen verflucht verführerischen Robin Hood, wenn ich
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