Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Inneren nur einbildest. Du darfst sie nicht beachten. Das weißt du doch, oder? Sophie? Sollen dich die Leute für verrückt halten?«
Ich presse die Lippen aufeinander, winde mich unter ihrem Blick. Ich weiß, sie will mich davor bewahren, dass ich wie meine Oma ende. Die ich nie kennengelernt habe. Oma Anne, der Schandfleck. Das große Tabu unserer Familie.
Stumm schaut meine Mutter mich an, wartet auf meine Antwort, und ich schäme mich, weil ich es nicht fertigbringe, sie zu beruhigen. Die Scham wächst an, auf meinem Monitor flammt ein überwältigendes, stacheliges Pink auf. Einbildung, hämmere ich mir ein, dieses Pink ist nur Einbildung, du kannst es ignorieren, dann verschwindet es wieder.
Nur dass diese Strategie noch kein einziges Mal funktioniert hat.
Mama kommt einen Schritt auf mich zu, ergreift meine Hand. »Sophie«, sagte sie beinahe flehentlich, »du darfst diesen … Dingen keine Beachtung schenken. Wenn du dich hineinsteigerst, wird es nur schlimmer.«
Schlimmer?
Plötzlich habe ich Angst.
»Werde ich verrückt, Mama? Bin ich verrückt?« Meine Stimme klingt rau, in mir toben stumpfes Oliv und durchsichtige Schlieren, die meinen Monitor aussehen lassen wie verschmutztes Glas.
Sie zieht mich zu sich heran, umfängt mich mit ihren warmen, weichen Armen, und ich kuschele mich an sie wie früher.
»Nein«, flüstert sie. »Nein, Sophie. Du musst nur immer daran denken, dass Einbildungen nicht die Wirklichkeit sind.«
Ich habe das Gefühl, an ihren Worten zu ersticken. Denn ich bilde mir meine Farben nicht ein, genauso wenig, wie ich mir Mamas Stimme einbilde oder ihren leichten Duft nach Lavendel. Mein innerer Monitor gehört zu mir wie meine Geschmacksknospen, meine Sehnerven und mein Tastsinn. Aber wenn ich das so fest glaube – bin ich dann nicht doch verrückt? Sehe ich Farben, wie andere Irre körperlose Stimmen hören? Werde ich morgen den Kontakt zur Realität verlieren, um übermorgen meiner Familie mit dem Fleischermesser aufzulauern?
Mein Nacken kribbelt, ich ringe nach Luft. Die Angst vor dem, was da möglicherweise in mir schlummert, verdichtet sich zu einem widerlichen, zähen Grau, bis mein innerer Monitor wie mit Kaugummi überzogen ist. Ich reiße mich von Mama los und renne aus der Küche, ignoriere die offene Tür zur Terrasse, wo sie fürs Mittagessen gedeckt hat. Ich hetze hoch in mein Zimmer, und erst als die Tür mit einem Knall hinter mir zufällt und ich mich aufs Bett werfe, kann ich allmählich wieder atmen.
Ich liege auf dem Rücken und starre an die Zimmerdecke.
Und frage mich zum tausendsten Mal, warum ich nicht einfach normal sein kann.
Zwanzig Minuten später habe ich mich beruhigt und schleiche die Treppe runter, um mich zu meiner Mutter auf die Terrasse zu setzen.
»Tut mir leid«, nuschele ich und schiebe mich auf meinen Stuhl.
Sie lächelt, einen Rest Besorgnis in den Augen. »Schon in Ordnung. Geht’s dir besser, mein Spatz?«
»Klar«, lüge ich und fange an, meine kalten Nudeln zu essen. »War ein bisschen anstrengend heute in der Schule. Wahrscheinlich war ich deshalb so durch den Wind.«
»Aber du hattest doch nur sechs Stunden«, sagt sie, ein halbherziger Versuch, uns beide auf dem schmalen Grat der Wahrheit zu halten.
Ich zucke mit den Schultern und schiebe mir so viele Nudeln in den Mund, dass ich unmöglich antworten kann.
»Na ja«, gibt Mama sich die Antwort selbst, »vielleicht brauchst du einfach mal eine Pause. Die elfte Klasse ist anstrengend, was? Ihr habt aber auch wirklich viel zu lernen dieses Jahr, bei uns damals war das lockerer. Bald sind Pfingstferien, da ruhst du dich schön aus!«
Pfingstferien – allein das Wort erfüllt mich mit freudigem Zitronengelb und entspanntem, cremigem Weiß, während Mama arglos weiterplappert. Wenn sie wüsste, was da schon wieder in mir abgeht, würde sie ausflippen.
Ich unterdrücke den Drang, ehrlich zu sein, und sage bloß: »Nach den Hausaufgaben gehe ich raus, fotografieren.«
»Für deine AG ?«
»Auch.«
Mama nickt, lächelt. Seit ich in der Foto- AG bei Frau Schöller bin, wird mein einsames Hobby von meinen Eltern nicht nur akzeptiert, sondern sogar gefördert. Frau Schöller hat mir schon nach den ersten zwei Wochen ein außergewöhnliches Talent bescheinigt, hat vom künstlerischen Ausdruck meiner Fotos und von meinem Blick für Details geschwärmt. Daraufhin habe ich zu Weihnachten eine Digitalkamera geschenkt bekommen.
Der Sturm ist vorbei, in der Atmosphäre unserer
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