Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
aber warum kommen deshalb Mamas Erinnerungen wieder hoch?«
Papa seufzt. »Ich hab doch schon gesagt, ich bin kein Psychologe. Für deine Mutter scheint das alles zusammenzuhängen, aber frag mich nicht, wie und warum. Vielleicht hat sie das Gefühl, ihr bricht der Halt weg, den wir, du und ich, ihr gegeben haben.«
Ich merke, dass mein Vater sich bemüht, die Kontrolle zu behalten. Das Ganze sachlich zu betrachten. Mamas Problem zu begreifen und sofort danach eine Lösung dafür zu finden.
Doch in seinen Augen erkenne ich etwas, das verdächtig nach Hilflosigkeit aussieht.
»Erzähl mir, was damals geschehen ist, Papa«, bricht es aus mir heraus. »Wie soll ich das alles denn sonst verstehen?«
Er zögert, setzt schon zu sprechen an. Dann schüttelt er den Kopf. »Es ist Mamas Geschichte. Du solltest sie von ihr selbst hören. Aber jetzt ist sicher nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Kleines. Du willst Mama doch nicht quälen, oder? Wo es ihr eh schon so schlecht geht.«
Frustriert schließe ich die Augen. Du willst Mama doch nicht quälen. Wie schaffen Eltern es nur immer, einem ein schlechtes Gewissen zu machen, sogar für Dinge, für die man absolut nichts kann? Wie zum Beispiel Kindheits-traumata der eigenen Mutter, die wieder hochkommen, weil die Tochter es wagt, erwachsen zu werden.
Doch auch wenn Papas Argumentation mich nervt, bin es im Moment nicht ich, die wichtig ist. Sondern meine Mutter. Denn offensichtlich geht es ihr um einiges schlechter als mir.
Also schaue ich Papa an und frage beherrscht: »Können wir ihr nicht irgendwie helfen, damit klarzukommen?«
Papa steht auf, geht zum Fenster und schaut in den frühsommerlichen Garten hinaus. Breitbeinig wie ein Cowboy steht er da, die Hände in den Hosentaschen, mit dem Rücken zu mir. Aber er kann mich nicht täuschen: Er ist völlig überfordert.
»Na ja«, sagt er zum Fenster. »Deine Aufgabe ist das ja nicht. Belaste dich mal nicht damit, mein Schatz.« Er schweigt ein paar Sekunden, dann dreht er sich entschlossen zu mir um. »Weißt du was, ich mache mit deiner Mutter einen Kurzurlaub! Damit sie mal auf andere Gedanken kommt. Ein bisschen wandern, ein bisschen Wellness, feines Essen, das wird ihr guttun. Meinst du, du kommst hier für ein paar Tage allein klar?«
»Allein … Ich … Natürlich«, stottere ich. Meine Eltern haben mich noch nie allein gelassen!
»Du bist schließlich alt genug, um dir auch mal selbst was in die Pfanne zu hauen, wenn du Hunger hast, hm?«, setzt Papa hinzu. »Und einen Wecker für morgens hast du auch.«
Pfanne. Wecker. Ich nicke verdattert. Und muss das alles in Wirklichkeit erst mal verdauen. Offensichtlich meint Papa es ernst damit, dass er meine »Abnabelung« akzeptiert – und er scheint diese Abnabelung nicht für eine Einbahnstraße zu halten.
Ich bemühe mich, die kindische Unsicherheit aus meiner Stimme zu verbannen, als ich frage: »Wegen des Weckers … äh … Wollt ihr denn während der Schulzeit in euren Kurzurlaub? Musst du unter der Woche nicht arbeiten?«
»Es ist gerade ziemlich ruhig bei uns, da kann ich gut ein paar Tage freinehmen«, antwortet Papa aufgeräumt. »Ich dachte an ein langes Wochenende. Nächsten Donnerstagabend los und am Montagabend drauf zurück. Wäre das in Ordnung für dich, Schätzchen?«
Am nächsten Freitag ist die Jugendhaus-Disco, wo ich mit Lena hin will, schießt es mir durch den Kopf. Hey, ich könnte heimkommen, wann es mir passt!
Sofort schäme ich mich für die eigennützige Vorfreude, die mich bei diesem Gedanken durchströmt. Ich halte mir vor, dass ich nur an meine Mutter denken sollte, an ihr Wohl, daran, dass sie mal rauskommt – aber ganz kann das beschämte Pink mein erfreutes Zitronengelb nicht vertreiben. Normalerweise muss ich um dreiundzwanzig Uhr zu Hause sein, pünktlich und, natürlich!, nüchtern.
Diesmal wird das anders sein.
Diesmal hätte ich die Freiheit, ein bisschen – nur ein kleines, vertretbares bisschen – über die Stränge zu schlagen. Meine Freundschaft mit Lena zu feiern, die mir in letzter Zeit so zerbrechlich erscheint. Meine Probleme zu vergessen. Meine Zweifel zu betäuben, wenn auch nur für die Dauer einer Freitagnacht.
Und außerdem könnte Mattis zu mir kommen, in meine sturmfreie Bude. Endlich könnten wir mal auf meinem Bett knutschen, mein Zimmer mit süßen Gefühlen erfüllen, mein Kissen mit dem Duft seiner Haare imprägnieren. Ich muss mir auf die Zunge beißen, um bei dieser Vorstellung nicht selig
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