Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Hand.
Vivian. Hat sie etwa alles gesehen?
Und wenn schon, denke ich. Dann hat Noah jetzt wenigstens jemanden, der ihn tröstet.
Ich mobilisiere das wenige in mir, was mir an Energie geblieben ist, und mache mich auf den Weg in Richtung Straße. Der Schock über das, was gerade passiert ist, hat den dichtesten Nebel in meinem Kopf vertrieben, und die Welt um mich herum dreht sich nicht mehr ganz so schnell. Kurz erwäge ich, Lena zu suchen, um ihr Bescheid zu geben. Doch bei der Vorstellung, mich durch die abgestandene Luft und all die schwitzenden Leiber dort drinnen kämpfen zu müssen, um sie zu finden, verwerfe ich diese Idee sofort. Das packe ich jetzt nicht mehr, nicht in meinem erbärmlichen Zustand. Morgen, denke ich. Morgen werde ich mich bei Lena entschuldigen.
Ich habe die Hauptstraße erreicht und gehe durch die Nacht, immer noch unsicher auf den Beinen, aber mit einem zögerlichen Stolz im Herzen. Ich habe Noah gezeigt, was ich von ihm halte – von seiner notgeilen Macho-Anmache, von unserer gemeinsamen Vergangenheit, von seiner verletzenden Art, mit mir umzugehen. Ich denke an mein Knie zwischen seinen Beinen. An sein schmerzverzerrtes Gesicht. Ha! Der Gute wird eine Weile brauchen, bis er wieder imstande ist, ein Mädchen zu belästigen.
Trotz meiner Übelkeit muss ich grinsen.
Doch würde ich ahnen, was mir bevorsteht, würde mir das Grinsen vergehen.
Statt zu grinsen, würde ich wohl panisch zurück zum Jugendhaus rennen. Ich würde Vivian ihr Handy klauen und es unverzüglich im Klo versenken. Oder es im Maisfeld vergraben. Oder es in seine Einzelteile zerlegen.
Aber ich ahne ja nichts, und deshalb gehe ich nach Hause, wo ich halb tot ins Bett falle.
Und am nächsten Morgen bekomme ich die SMS .
Sechsundzwanzig
Jetzt weiß ich also, warum der Durst nach einem Alkoholrausch »Brand« heißt.
Als ich gegen zehn Uhr aufwache, lechze ich so sehr nach Wasser, dass ich mich trotz des Presslufthammers in meinem Schädel und der Säure, die sich durch meinen Magen frisst, aus dem Bett kämpfe. Ich halte mir eine Hand auf den Bauch und eine an den Kopf und schlurfe ins Bad. Dort trinke ich aus dem Wasserhahn, bis mein Durst so weit gelöscht ist, dass er mir nicht mehr als mein vordringlichstes Problem erscheint. Denn das ist jetzt wieder meine Übelkeit. Oder doch eher das Hämmern in meinem Kopf?
Au Mann. Und all das wegen des zweifelhaften Vergnügens, statt Orangensaft hochprozentige Limo zu trinken.
Als ich zurück zum Bett schlappe, verfluche ich Lena, weil sie die Alcopops besorgt hat. Mich selbst, weil ich sie getrunken habe. Diese ganze beschissene Party, einfach weil sie stattgefunden hat. Ich hatte so einen Wahnsinns-Nachmittag mit Mattis, warum musste ich den Tag so ätzend enden lassen?
Und da fällt es mir wieder ein.
Das mit Noah.
Er und ich hinter dem Jugendhaus.
Ich stöhne auf. Pink wie eine Chemieblase breitet sich das Gefühl von Peinlichkeit in mir aus. Okay, ich habe Noah das Knie zwischen die Beine gerammt, das immerhin habe ich richtig gemacht. Aber warum musste ich mir so die Kante geben, dass es überhaupt zu einer solchen Situation kommen konnte?
Ich falle aufs Bett, vergrabe mein Gesicht im Kissen und schwöre mir, dass ich mich niemals! niemals! niemals! wieder besaufen werde. Dabei komme ich mir vor wie der typische Alki, der sich genau das nach jedem Absturz vornimmt. Bei mir ist es jedoch anders – ich werde mich daran halten. Wenn nur endlich die Scham nachlässt. Und das brüllende Kopfweh. Und die Übelkeit. Und der Durst.
Und wieder quäle ich mich auf und gehe zum Wasserhahn.
Fast trotzig nehme ich mir vor, jetzt nicht zurück ins Bett zu kriechen. Ich werde kalt duschen, dann frühstücken … Oder nein, lieber nichts essen. Nicht mal daran denken! Vielleicht sollte ich einen Kaffee mit Salz trinken, das hilft bei Kater, habe ich mal gehört. Leider dreht sich mir allein schon bei der Vorstellung der Magen um. Also auch keinen Kaffee mit Salz. Toast, Kamillentee und ein Anruf bei Mattis. Das ist es, was ich jetzt brauche.
Die Aussicht darauf, Mattis’ Stimme zu hören, muntert mich auf. Ich gehe zum Stuhl, über dem meine Hose hängt – immerhin habe ich es heute Nacht noch geschafft, mich auszuziehen – und ziehe das Smartphone aus der Gesäßtasche.
Drei Anrufe auf der Mailbox. Bestimmt Lena, die sich Sorgen um mich gemacht hat. Dazu eine SMS von … Nein, nicht von Lena. Und leider auch nicht von Mattis.
Sondern von Walli.
Komisch. Seit
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